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       # taz.de -- Computer-Rollenspiel „The Witcher 3“: Da geht schon mal was kaputt
       
       > „The Witcher 3“ zeigt auch die idyllischen Seiten des Mittelalters und
       > fragt so: Ging‘s von 500 bis 1500 wirklich nur ums Saufen, Huren und
       > Prügeln?
       
   IMG Bild: Mittelalter plus Fiktion: eine Szene aus „The Witcher 3“.
       
       Erst mal läuft Heimatfilm. Der Mann liegt in der hölzernen Badewanne, die
       Frau mahnt, er möge sich um das Kind kümmern. Unwillig stapft er hinaus auf
       den Balkon, unfassbare Weite, hohe Gipfel, Sonnenglanz auf Schnee,
       Nadelwald in Dunkelgrün. Er sagt: „Scheiße … der Bergpass ist schön wie eh
       und je.“
       
       Unten im Hof spielt das Kind. Moment mal, sollte das nicht mit Großvater
       ein Buch lesen? Der schläft vor dem Kamin. Bisschen Erotik ist auch. Die
       Frau hat nur ein Handtuch an, um die nassen Haare gewickelt. Schöner
       Hintern.
       
       Die ersten Szenen, in denen man seine Figur im Computerspiel „Witcher 3“
       bewegt, zeigen Idylle. Mit der Frau flirten, Opa aufwecken, Tochter
       ausschimpfen, weil sie lieber mit dem Holzschwert Fechten übt, als in alten
       Schmökern zu lesen. Alles in einer pittoresk verfallenen Burg.
       
       „Es stand in alten Zeiten ein Schloß, so hoch und hehr,// Weit glänzt es
       über die Lande bis an das blaue Meer,// Und rings von duft’gen Gärten ein
       blütenreicher Kranz,// Drin sprangen frische Brunnen in Regenbogenglanz.“
       
       Das dichtete Ludwig Uhland 1814 in „Des Sängers Fluch“, ein Schriftsteller
       der Romantik, jener Literaturgattung, welche das Mittelalter zu einem
       Sehnsuchtsort verklärte, mit einer idealen Ordnung, in der es für jeden
       einen Platz gab und in der Mensch und Natur noch versöhnt waren. Poesie als
       alles durchdringende Kraft. Malerische Burgruinen auf Felsen, sexy
       Schlossfrollein, so was fanden die toll.
       
       ## Nett sind die nicht
       
       Solche Fantasien ruft „The Witcher 3“ ganz am Anfang ab. Das Spiel zeigt
       eine der zwei Varianten, wie wir uns heute das Mittelalter vorstellen, die
       von dieser Zeit als einem Idyll.
       
       Geralt von Riva, der Mann aus der Badewanne, ist ein Mutant, der gut mit
       Schwertern kämpft. Menschen bezahlen ihn, damit er Ungeheuer tötet. Er ist
       ein Hexer, eine besondere Berufsgruppe in der Welt von „Witcher 3“, dem
       jüngsten und wahrscheinlich auch letzten Teil einer Spielereihe, die auf
       den Büchern des polnischen Autors Andrzej Sapkowski basiert. Sie werden
       hart trainiert und genetisch verändert, damit sie schnell und stark genug
       sind für Kämpfe mit Vampiren, Greifen, Monstern aller Art.
       
       Kritiker, in Deutschland und weltweit, loben die Witcher-Reihe. Wegen ihrer
       Charaktere, den erzählten Geschichten. Vier Millionen Mal habe sich das
       Spiel bereits zwei Wochen nach dem Erscheinen am 19. Mai verkauft, sagen
       sie beim polnischen Entwicklerstudio CD Projekt RED.
       
       In Geralts Welt herrscht Krieg, zwei Monarchen kämpfen um Land. So steuert
       man Geralt nicht nur durch über Äcker, die Bauern per Hand bearbeiten, und
       Restaurants, die Tavernen heißen, sondern über Schlachtfelder voller
       Leichen, vorbei an abgebrannten Häusern und Soldaten, die sich darüber
       unterhalten, wie sie die nächste Frau vergewaltigen. Es wird ausgeraubt,
       ermordet. Mit vielen Charakteren, die einem begegnen, möchte man lieber
       kein Bier trinken, sie sind feige, gierig, lüstern und hinterlistig.
       
       ## Ohne Regeln, ständiger Überlebenskampf
       
       Das Mittelalter – eine Zeit der Dunkelheit, ohne Regeln, ständiger
       Überlebenskampf. Das ist neben der romantischen Perspektive von Ludwig
       Uhland und KollegInnen die andere häufig eingenommene Sicht auf das
       Mittelalter. Es ist auch die ältere. Die frühen Humanisten im 15.
       Jahrhundert haben diesen abwertenden Begriff eingeführt, media aetas, 1.000
       verlorene Jahre zwischen dem Untergang des Weströmischen Reiches und damit
       der Antike und ihrer Wiederentdeckung in den Jahrhunderten der Aufklärung.
       
       Philosophie, Kunst, ordentliche Lateinkenntnisse, Anstand – alles sei in
       dieser Epoche zuschanden gekommen, so die Klage. Das klang genau so, als
       würden alte Menschen über die Jugend von heute meckern. Und so sehen viele
       von uns in der Gegenwart das Mittelalter als eine Art Pubertät Europas.
       
       Die mussten sich mal so ordentlich austoben damals. Saufen, huren, prügeln.
       Dabei geht schon mal was kaputt. Menschen zum Beispiel. Die Zeit zwischen
       500 und 1500 unserer Zeitrechnung gilt als Willkürepoche. Falls zwei hohe
       Tiere einander nicht mögen – Fehdehandschuh und Duell oder gleich Krieg,
       brandschatzen, plündern. Diese Bilder wurden seit Reformation und
       Renaissance mit dem Mittelalter verbunden. Sogar ein paar Romantiker haben
       sie verinnerlicht. In Ludwig Uhlands Gedicht kommen zwei Sänger auf das
       eingangs besungene Schloss, Vater und Sohn. Sie singen herzergreifend,
       Hofstaat und Königin sind hingerissen, nur der Monarch is not amused.
       
       ## So war das im Mittelalter
       
       „Ihr habt mein Volk verführet; verlockt ihr nun mein Weib?“ // Der König
       schreit es wütend, er bebt am ganzen Leib;// Er wirft sein Schwert, das
       blitzend des Jünglings Brust durchdringt.// Draus statt der goldnen Lieder
       ein Blutstrahl hoch aufspringt.“ 
       
       Tyrannen mit Titel, im „Witcher“ begegnet man auch ein paar davon, der eine
       schlägt seine Frau, der anderer verbrennt lieber Zauberer.
       
       Zu einer ordentlichen Pubertät gehören Blackouts, Gedächtnislücken. Das
       Mittelalter bietet eine Menge davon. In dem Gebiet, was später einmal das
       Deutsche Reich wurde, hörten die Menschen im 10. Jahrhundert unter den
       ottonischen Herrschern auf mit Lesen und Schreiben. Alte Handschriften
       verstaubten in den Klöstern, die Kultur wurde eine mündliche.
       
       Die Quellenlage, sagen Historiker, ist im Mittelalter oft dünn. Die
       Geschichten über eine durchfeierte Nacht, an die man sich kaum erinnert,
       sind immer besser als die Nacht selbst. Das Mittelalter ist hervorragendes
       Material für unsere Fiktionen, für Computerspiele, Bücher und Ritterfeste.
       Auch die US-Fernsehserie „Game of Thrones“, eine Mafiageschichte mit
       Ritterrüstungen und Drachen, ist ein riesiger Erfolg.
       
       ## Von Feministinnen kritisiert
       
       In „Game of Thrones“ sterben wie im Witcher jede Menge Leute, es gibt viele
       nackte Frauen, Sex und Vergewaltigungen.
       
       Über Letzteres haben sich Feministinnen und die demokratische US-Senatorin
       Claire McCaskill beschwert. Sie werfen den Schöpfern der Serie vor, sie
       nutzten zu oft sexuelle Gewalt, um die Handlung voranzutreiben oder
       Charaktere interessanter erscheinen zu lassen. In den Kanälen des Internets
       schrie es ihnen entgegen, so sei das Mittelalter nun einmal gewesen.
       
       Das ist eine dumme Antwort. Wir wissen nicht, wie das Mittelalter war. Was
       wir wissen, lässt darauf schließen, dass Frauen in vielen Gegenden, vor
       allem in Städten, mehr Rechte hatten als zur Zeit der Aufklärung, in der
       mit scheinwissenschaftlichen Argumenten stärker zwischen Frau und Mann
       geschieden wurde. Auf Vergewaltigung einer Frau stand im mittelalterlichen
       Hamburg die Todesstrafe, sie musste die Tat allerdings beweisen. Das war
       damals sicher nicht leichter als heute. Frauen waren benachteiligt,
       willenlose Objekte waren sie nicht.
       
       Nach dem Erscheinen von „Witcher 3“ schrieb der südafrikanische Journalist
       Tauriq Moosa, er möge das Spiel, aber es seien ihm nur weiße Menschen
       begegnet. Lauter Aufschrei. Daniel Vávra, ein tschechischer
       Spieleentwickler, fragte Moosa auf Twitter: „Are people on other continents
       and of other cultures so incompetent that they need me to produce their
       culture?“ Er postete auch eine Weltkarte, die zeigt, dass in Polen
       mehrheitlich Weiße leben.
       
       Nur spielt man „The Witcher“ nicht in Polen, so wie „Game of Thrones“ kein
       10. Jahrhundert zeigt. Unser Mittelalter ist immer das, was wir uns
       darunter vorstellen.
       
       3 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Schulz
       
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