URI: 
       # taz.de -- Piraten stellen Nahverkehrs-Studie vor: Keine Fahrausweise bitte!
       
       > Verkehr Die Piraten stellen ihre langerwartete Studie zum ticketlosen
       > öffentlichen Nahverkehr vor. Ihr Bürgerticket für fast alle Erwachsenen
       > würde bis zu 61 Euro kosten
       
   IMG Bild: Er wäre dann - zumindest in Berlin - ziemlich arbeitslos: Schaffner eines Nahverkehrszugs.
       
       „Auf so einem Weg muss man immer auch mal Pausen einlegen“, erklärt der
       verkehrspolitische Sprecher der Piratenfraktion, Andreas Baum. Auch wenn
       der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) das Thema ist, geht es Baum nicht
       darum, ob ein BVG-Ticket seine Gültigkeit bei einer Fahrtunterbrechung
       behält. Gemeint ist der politische Weg zum „fahrscheinlosen ÖPNV“ in
       Berlin. Die Piraten stellten am Freitag eine Machbarkeitsstudie vor, die
       den Weg zu diesem Ziel beleuchten soll.
       
       Das Thema hatte sich die Partei bereits im Wahlkampf auf die Fahne
       geschrieben. Wie Baum im Vorwort zur Studie schreibt, ergab sich für die
       Fraktion aber erst im Laufe der Legislaturperiode die Notwendigkeit, eine
       wissenschaftliche Studie in Auftrag zu geben: Man habe erkannt, dass eine
       belastbare Datengrundlage fehle und dass „eine sachorientierte Debatte
       weder im Plenum noch in den Fachausschüssen“ des Parlaments stattfinde. Auf
       der Basis der Studie soll nun die Debatte weitergeführt werden –
       öffentlich.
       
       Die entscheidende Frage lautet: Wer soll die ganzen Fahrleistungen
       bezahlen? Antwort: Alle. Das von den Piraten beauftragte Hamburg Institut
       hat als Finanzierungsmodell ein sozial gestaffeltes Bürgerticket
       entwickelt: Alle unter 18 Jahren und alle, die auch bisher keinen
       Fahrschein kaufen müssen, sollen nichts zahlen. Für sozial Schwache werden
       monatlich 15 Euro fällig, für alle anderen ein Betrag zwischen 42 und 61
       Euro.
       
       Die Studie lässt also viel Spielraum. Das liegt an der ebenfalls wenig
       präzisen Zahl, die das Institut für die gesamten ÖPNV-Kosten ermittelt hat,
       die dann auf alle BerlinerInnen umgelegt würden: Sie sollen 2020 zwischen
       1,5 und 2 Milliarden Euro betragen. Die etwas vage Angabe liegt laut Gregor
       Waluga vom Hamburg Institut an den ungenauen Zahlen, die die
       Verkehrsbetriebe herausgeben. Man habe sich darum an der Verkehrserhebung
       „Mobilität in Städten“ der TU Dresden orientiert.
       
       Wie die Bürgerbeiträge zu erheben wären, darüber wollte Baum nichts
       Konkretes sagen. Die Studie zeige aber, dass es rechtssichere Instrumente
       gebe, mit denen alle Einwohner an der Finanzierung des ÖPNV beteiligt
       werden könnten.
       
       Skeptiker wenden gerne ein, die völlige Freigabe öffentlicher
       Verkehrsmittel bringe das Netz zum Kollabieren. Dagegen prognostiziert das
       Hamburg Institut nur einen „moderaten Anstieg der Mehrnutzung“. Trotzdem
       bietet sein Modell quasi als Vorsichts- oder Übergangsmaßnahme eine
       Variante an, bei der im Berufsverkehr ein Extraticket fällig wird.
       
       ## Ein paar Sonderregeln
       
       Solche Sonderregelungen konterkarieren natürlich den Grundsatz „Keep it
       simple“, den die Piraten ihrer Strategie für den fahrscheinlosen ÖPNV
       voranstellen. Aber es gibt noch mehr Fallstricke: Weil Berlin nicht mehr
       auf einer Insel liegt, sondern BVG und S-Bahn im Verbund mit den
       Brandenburger Verkehrsunternehmen stehen, ließen sich die Ticketautomaten
       ohnehin nicht einfach einmotten. Vorsichtshalber rechnet die Studie die 50
       Millionen Euro, die die Fahrschein-Infrastruktur jedes Jahr verschlingt,
       deshalb gar nicht erst heraus.
       
       Andreas Baum freut sich jedenfalls, dass das Thema dank den Piraten auch
       bei anderen Parteien auf der Tagesordnung steht. Die Grünen haben schon
       2013 das Ziel eines fahrscheinlosen Nahverkehrs beschlossen; die Linke
       legte vor Kurzem mit einem ähnlichen Modell der solidarischen Finanzierung
       nach. Selbst die SPD hat sich auf ihrem Parteitag vor zwei Wochen von den
       Jusos breitschlagen lassen, ein Gutachten vom Senat einzufordern.
       
       Rein rechnerisch, folgert Andreas Baum, gebe es also schon eine politische
       Mehrheit für den fahrscheinlosen ÖPNV in Berlin. Dabei hätten anfangs alle
       nur „So ein Quatsch“ gesagt. Mit der Machbarkeitsstudie, so Baum in
       unnachahmlicher Bescheidenheit, „sind wir nun mal wieder einen Schritt
       voraus.“
       
       26 Jun 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Claudius Prößer
       
       ## TAGS
       
   DIR Öffentlicher Nahverkehr
   DIR Piraten
   DIR Studie
   DIR Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin
   DIR ÖPNV
   DIR Andreas Geisel
   DIR ÖPNV
   DIR Protest
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Debatte um kostenlosen Nahverkehr: Voll abgefahrene Ideen
       
       Die rot-rot-grüne Koalition hat untersuchen lassen, wie ein billigerer oder
       kostenloser ÖPNV finanzierbar wäre. Jetzt geht die Debatte richtig los.
       
   DIR Ohne Fahrkarte in Bus und Bahn: Drehkreuze statt Strafrecht
       
       Schwarzfahrer sollen nicht mehr im Gefängnis landen, fordert NRW-Minister
       Biesenbach. Die Verkehrsbetriebe sollten selbst etwas tun.
       
   DIR Stadtentwicklungssenator über Berlin: „Ein Volksbegehren ist keine Drohung“
       
       Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel über die Auseinandersetzung mit
       Mieteraktivisten, die Probleme einer wachsenden Stadt und fehlende Radwege.
       
   DIR Mobilität für alle: Trampen mit Bus und Bahn
       
       Verein für Umweltökonomie will Bremen zur Ticket-Teiler-Stadt machen. Das
       Ziel: kostenloser Nahverkehr und Entkriminalisierung von Armut.
       
   DIR Ohne Ticket im Nahverkehr: Schwarzfahrer auf Schleichwegen
       
       Statt mit Fahrschein sitzen sie mit großen Schildern in Bus und Bahn.
       Darauf steht: „Ich fahre schwarz“. Kann jemand, der so ehrlich ist,
       verurteilt werden?