URI: 
       # taz.de -- Kolumne Ausgehen und Rumstehen: What happened to my Rock ’n’ Roll?
       
       > Bei der Ostkreuz-Party ist gut Kirschen essen, aber sonst leider nichts.
       > Black Rebel Motorcycle Club langweilen und Roxette machen nostalgisch.
       
   IMG Bild: Hallo, Neunziger: Roxette in Concert.
       
       Von Ostkreuz, der [1][Agentur der Fotografen], weiß ich, dass ihr festerer
       Kern sich von Zeit zu Zeit versammelt, zum Essen, Trinken, Reden, und
       irgendwann im Laufe des Abends entstehen dann immer so märchenhafte
       Gruppenfotos, uninszeniert, wo alle irgendwas reden, schauen, machen, es
       wirkt so intensiv und menschlich wie ein Echo aus einer analogeren Welt.
       Entsprechend gespannt bin ich auf das Sommerfest zum 25.
       Ostkreuz-Geburtstag in Weißensee. Am Freitagabend rausche ich mit dem Rad
       über die Linden, die autofrei sind, weil gesperrt für den CSD-Vorboten
       „Dyke March“. Viele tausend Frauen laufen da Richtung Kottbusser Tor, auf
       einem Transparent steht „Die Lesben kommen“. Letzte Woche [2][kamen ja noch
       die Toten] nach Berlin. Nächstes Wochenende übrigens Helene Fischer.
       
       Nun aber Ostkreuz. Es ist. Na ja. Der kleine Innenhof ist zugekleistert mit
       Tischen und der einzige Essensstand, betrieben von einem sehr freundlichen,
       aber auch sehr langsamen Couscous-mit-Merguez-Mann, ist um halb neun
       leergekauft. Die letzte lauwarme Wurst schenkt er mir, eine lange Schlange
       bleibt hungrig zurück, dann gehen auch schon die Reden los. Während die
       Namen der sieben Ostkreuz-Gründer verlesen werden, pflücke ich mir im
       zweiten Innenhof zuckersüße Kirschen direkt aus einem Baum, zum ersten Mal
       in meinem Leben. „Ich werde auch was trinken und essen jetzt“, beschließt
       der zweite Sprecher seine Rede. Ich denke: „Nee, essen wirst du hier sicher
       nix, höchstens Kirschen.“ Danach fahre ich auch schon weiter, ins Astra, wo
       Black Rebel Motorcycle Club spielen.
       
       Da bringen die Fans vorn alles, was man von einem Rockkonzert erwartet:
       Moshpit, Devil Horns, Crowdsurfing. Andererseits wird schon beim dritten
       Lied im Takt mitgeklatscht – hey!, hey!, hey!, hey!, Hände überm Kopf.
       Haben die denn keinen Anstand? [3][What the fuck happened to my Rock ‚n‘
       Roll?] Rauchen darf man auch nur draußen, und dort läuft allen Ernstes
       Neunziger-R&B, Blackstreet und Konzertsound vermengen sich, eine widerliche
       Mischung. Dennoch habe ich keine Lust, wieder reinzugehen. Warum nur? Finde
       ich BRMC vielleicht gar nicht so gut, wie ich immer dachte? Habe ich die
       jetzt wieder mit QOTSA (Kenner wissen, wer gemeint ist) verwechselt? Nur
       mal drei Stücke lang gibt es die Art Gitarrensoundgewitter, von denen ich
       viel mehr erhofft hatte. Der Rest ist öde.
       
       Das wahre Konzerthighlight des Wochenendes ist ja aber auch erst am Samstag
       dran: Roxette in der O2 World. Genau, es gibt sie wieder. Und natürlich war
       auch ich Fan, damals, mit 11, in Oldenburg. Allein schon weil mein
       zweitbester und eine Klasse älterer Freund Gunnar auch Fan war, und Gunnar
       wusste Bescheid. Das mit der Instant-Nostalgie funktioniert aber nicht so
       recht auf einem Sitzplatz im stickigen Innenraum einer Multifunktionsarena,
       gemeinsam mit 10.000 Steuerfachgehilfen und Ikea-Verkäuferinnen. Da unten
       sind Roxette, verdammt noch mal, und es ist so steril, als würde ich
       fernsehen.
       
       Noch bestürzender als das Bühnenbild (fünf Vorhänge aus Metall-Lamellen)
       ist dabei der körperliche Zustand von Marie: Beim Reinkommen muss sie
       gestützt werden, beim Konzert sitzt sie starr vorne auf der Bühne, wie ein
       schneeweißer Fremdkörper inmitten der schwarz gekleideten Band, ihr Gesang
       ist mitunter brüchig. Daneben strahlt Per eine Extraportion Optimismus aus,
       hüpft über die Bühne, macht alberne Ansagen.
       
       Je länger das dauert, desto mehr spürt man aber, wie ehrlich und verdammt
       viel Lust er, die ganze Band, auch Marie natürlich, auf diese Tour und
       dieses Konzert haben, und etwa auf der Hälfte, bei „Fading Like a Flower“
       schlägt die Stimmung um. Die Halle tobt, Menschen liegen sich in den Armen,
       das Stehplatzpublikum vor der Bühne spielt mit bunten Luftballons und
       jubelt, als der Gitarrenmann ein Pack-die-Badenhose-ein-Solo spielt.
       
       Das Finale ist natürlich [4][“The Look“] und auf einmal ist es doch ein
       wenig wie bei Gunnar im Dachschrägenkinderzimmer, wo wir runter zum
       Basketballspielen gegangen sind, während der Atari-Nadeldrucker eine halbe
       Stunde lang ein Bild von einem Totenkopf ausdruckte. Wie ein Echo aus einer
       analogeren Welt.
       
       29 Jun 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.ostkreuz.de/
   DIR [2] /Aktion-Die-Toten-kommen/!5205852
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=ot6FFSb5SzY
   DIR [4] https://vimeo.com/50788117
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Brake
       
       ## TAGS
       
   DIR Ausgehen und Rumstehen
   DIR Agentur Ostkreuz
   DIR Konzert
   DIR Ausgehen und Rumstehen
   DIR Ausgehen und Rumstehen
   DIR Singles
   DIR Mauerfall
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kolumne Ausgehen und Rumstehen: Der Sound schmeckt blasshellgrün
       
       Kryptische Visuals beim Synästhesie-Festival, eine Lesung mit hohem
       Frauenanteil und Racletteaufklärung im Chagall. Ein Wochenendrückblick.
       
   DIR Kolumne Ausgehen und Rumstehen: Ich habe nichts gegen Ausländer
       
       „Assimilierte Wichser“, die hingehen sollen, wo sie herkommen. Im Berliner
       Theater Hebbel am Ufer feierte „Hate Poetry“ dritten Geburtstag.
       
   DIR Kolumne Ausgehen und Rumstehen: Ein bisschen Quality Time
       
       Feste Partnerschaften machen Menschen krank. Erste Symptome sind
       Schwärmereien und Desinteresse an anderen Sexualpartnern.
       
   DIR Kolumne Ausgehen und Rumstehen: Alle Hautfarben
       
       Die Nacht beginnt in einer Bar, in der nackte Puppen von der Decke hängen.
       Ein Abend mit Barbies und Make-up-Vorschlägen von Fremden.