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       # taz.de -- Performance-Festival in Berlin: Wild werden, Wald werden
       
       > Zwischen den Künsten: Beim Berliner Foreign-Affairs-Festival inszeniert
       > Jan Fabre das gewaltige „Mount Olympus“ – Tino Sehgal zeigt „This
       > Progress“.
       
   IMG Bild: Dionysos (Andrew Van Ostade) eröffnet und beendet die Spiele auf dem Mount Olympus.
       
       Berlin taz | „Einem guten Schiss folgt ein Seufzer der Erleichterung“.
       Golden glänzt der Bauch von Dionysos bei diesem Satz in seiner letzten Rede
       an das Publikum im Haus der Berliner Festspiele. 24 Stunden lang (16 davon
       war die Autorin dabei) hat er uns am letzten Juniwochenende durch Theater,
       Tanz und Ritual geführt. Witzig ist dieser Satz, weil er die ganze
       Kunstanstrengung eines Tages und einer Nacht mal eben so vergleichsweise
       herunterbricht auf einen Vorgang der Verdauung. Begeistert wird er
       aufgenommen, weil das Publikum weiß, es hat es bald geschafft.
       
       Die Haut der Tänzer und Schauspieler, die eben in einem letzten wilden Beat
       das Fleisch vibrieren ließen bis in jede Muskelfaser – das Publikum stand,
       klatschte und schrie vor Begeisterung –, schimmert und funkelt neben
       Dionysos, mit Farben und glitzerndem Pulver über und über besprüht. Eine
       prächtigere Haut ist wohl kaum vorstellbar.
       
       Die Uraufführung des monumentalen Bühnenwerks „Mount Olympus – to glorify
       the cult of tragedy“ von Jan Fabre bildete am Wochenende einen Höhepunkt
       des Berliner Festivals Foreign Affairs. Mit Fabre hat der Kurator Matthias
       von Hartz noch andere Pioniere der Performancekunst eingeladen, die seit
       gut dreißig Jahren verändert haben, was Theater sein kann, wie die
       britische Company Forced Entertainment, und jüngere Grenzgänger zwischen
       bildender Kunst und Theater, wie Tino Sehgal.
       
       ## Große Behauptungen
       
       Aber keiner ist so pompös wie Jan Fabre, so vermessen in dem, was seine
       Kunst zu sein behauptet. Und weil er das laut und auf der Bühne tut, leidet
       darunter, was die gut dreißig Künstler seines Ensembles an großartigen
       Tänzen, Bildern und Szenen auf die Bühne bringen.
       
       Davon soll zuerst erzählt werden: Wie sie zum Beispiel das Wildwerden der
       von Dionysos in die Wälder gelockten Menschen umsetzen, wie sie Wald
       werden, ist großartig. Mit eingetopften Bäumchen suchen sie die sexuelle
       Vereinigung, versuchen an Erde, Blättern und Stamm alle möglichen
       Annäherungen, parodieren die Pornografie, skizzieren erotisches Glück und
       Elend und lassen sich Zeit. Später topfen sie sich selbst in die
       Pflanzgefäße und markieren das Baumsein.
       
       Vielfach arbeitet Fabre mit unseren Vorstellungen der Antike und
       überlieferten Bildern. Tänze orientieren sich an Vasenbildern, Skulpturen
       werden in Bewegung gesetzt. Die Vorstellung von einem Forum der
       Philosophen, alle in eine weiße Toga gekleidet, gelingt umwerfend komisch,
       denn allein lautmalerisch, mit Ächzen und Stöhnen und in den
       Erregungskurven des Sexes werden ihre Dispute dargestellt.
       
       ## Slapstick vom Feinsten
       
       Auch ein anderes Kapitel könnte als ein Stück für sich stehen, von einem
       König, der die Krone nicht will und mit ihr kämpft, pantomimischer
       Slapstick vom Feinsten.
       
       Vieles wiederholt sich, wie die von Jeroen Olyslaeger geschriebenen
       Monologe der Figuren. Vor allem die Frauen macht er stark und souverän,
       Iokaste, Kassandra, Agape, Klytemnästra, Medea und Alkestis. Wie in einer
       Lesart, die mit feministischen Lektüren in den achtziger Jahren groß wurde,
       sind sie die Opfer der männlichen Gier nach Macht und Starrheit, während
       die Männerfiguren eher kläglich daherkommen.
       
       Die Schauspieler deklamieren deutlich artikuliert, in Englisch,
       Französisch, Niederländisch, Italienisch, Deutsch – mit zweisprachiger
       Untertitelung. Ihr Spiel ist solide – dass es aber, aufgrund der Tänze, der
       körperlichen Anstrengung, der ritualisieren Bilder und des vielen rohen
       Fleisches, das als Requisite massenhaft zum Einsatz kommt, ein anderes
       Theater wäre, wie der Regisseur gerne behauptet, sieht man nicht.
       
       ## Krieger der Schönheit
       
       So ungefähr alle 90 Minuten gibt es ein Traumkapitel. Bühnennebel wabert,
       dekorativ werden Bilder vom Tod und vom Sterben zelebriert, und ein
       Schauspieler am Mikrofon schlüpft in die Rolle des „Erschaffers“ dieses
       Theaterabends. In Wachträume will er uns treiben, einen „Krieger der
       Schönheit“ nennt er sich, erzählt von dem Leiden dessen, der sich stets an
       der Grenze zwischen Wachsein und Taum aufhalten will. Das ist eine
       kitschige und furchtbar pathetische Selbstüberhöhung des Künstler-Ichs,
       peinlich sogar in der Zelebrierung des eigenen Genies.
       
       Nicht in der Dauer liegt das Problem dieser Aufführung, sondern in dem
       Anspruch, durch eine außergewöhnliche Form von gemeinschaftlichem Erleben
       den Zuschauer verwandeln zu können. Der hat sich einfach nur gut
       unterhalten, geschlafen, gegessen, viel gesehen, in den Pausen vielleicht
       die Mythenschule besucht; aber er ist immer Zuschauer geblieben.
       
       Man kann Fabre deshalb ganz gut Tino Sehgal entgegenstellen, der bei
       Foreign Affairs eine Arbeit aufführt, „The Progress“, und im
       Martin-Gropius-Bau in einer Werkschau vier weitere zeigt. Auch das ist
       keine bescheidene Angelegenheit, denn immerhin sind 60 Darsteller an den
       Aufführungen beteiligt, die bis 8. August in den Räumen des Museums zu
       erleben sind. Aber ihr Gestus ist viel unaufdringlicher und zarter.
       
       ## Der Lichthof beginnt zu atmen
       
       Jeder Raum wird zur Bühne, mit Tanz, Text und Stimme arbeitet Sehgal. Der
       Lichthof des Martin-Gropius-Baus, von doppelten Arkaden umstanden, beginnt
       zu atmen, wenn sich dort die Performer verteilen und mit ihren Stimmen zu
       modellieren beginnen, wortlos und summend, lange schwingende Bögen in den
       Raum stellen, und durchstoßen mit scharfen und schnappenden Lauten. Das hat
       etwas von sakraler Anmutung, von Stiftung einer Gemeinschaft, aber führt in
       seinem Minimalismus auch immer wieder zurück zur Konzentration auf den
       Moment, der Reduktion auf die Faktoren Besucher, Raum und gestalteter Zeit.
       
       Tatsächlich nehmen sowohl die Textarbeiten wie die Tänze Bezug auf den
       Kontext Museum; sei es, dass Skulpturen und Bilder zitiert und umgedeutet
       werden wie in „The Kiss“, oder Diskurse um die Kunst verknüpft werden mit
       einer Beobachtung der Besucher. Denn der bildungsbürgerliche Habitus, den
       der Museumsbesucher sehr oft mitbringt, ist für Sehgal ebenso ein
       Anknüpfungspunkt wie dessen körperliche Verhaltensweisen.
       
       ## Auf- und abschwellende Tonkurven
       
       Die einzelnen Aufführungen sind nicht lang, und doch schafft Sehgal es auf
       dieser kurzen Strecke, die Beziehungen zwischen Werk und Betrachter zu
       verändern, die Grenzen zu verflüssigen. Manchmal, weil er die Besucher, wie
       in „The Progress“, jeweils mit einem Performer spazieren gehen und in ein
       Gespräch verwickeln lässt, das die verschiedenen Lebensalter durchquert und
       den Begriff des Fortschritts kritisch reflektiert.
       
       Manchmal, weil er sie in einen dunklen Raum zwischen Sänger und Tänzer
       schickt und man dort, vom Sehsinn nicht mehr gestützt, in vorsichtiger
       Orientierung von den energetisch auf- und abschwellenden Tonkurven
       ergriffen wird und den Tanz lange spürt, bevor man ihn sieht.
       
       Es gibt von Sehgals Stücken keine Fotos, zumindest nicht mit seinem
       Einverständnis. Damit verstärkt er einerseits ihren Charakter außerhalb der
       Welt der Dinge, was ihm wichtig ist. Aufgewachsen in Sindelfingen – sein
       Vater, der aus Indien kommt, war dort Manager bei IBM –, habe er täglich
       die Fabrikationsstätten von IBM und Daimler vor Augen gehabt, erzählt er
       auf Nachfrage, und der Blick auf diese ständige Vermehrung von Ware und
       Gegenständen habe seinen Wunsch genährt, im Flüchtigen zu bleiben. Ganz
       frei von Selbststilisierung ist auch dieser Künstler nicht.
       
       1 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Bettina Müller
       
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