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       # taz.de -- Türkischer Schriftsteller Emrah Serbes: Ein klassischer Haudegen
       
       > Auf Demos stellt er sich vor die Wasserwerfer, seine Sprache ist der
       > Straßenjargon: eine Begegnung mit Emrah Serbes in Berlin.
       
   IMG Bild: Zweimal wurde Emrah Serbes schon wegen Beleidigung verklagt – vom Staatspräsidenten Erdogan.
       
       „Ich hasse Interviews“ ist das Erste, was Emrah Serbes sagt. Er sitzt in
       einem Café in Berlin-Kreuzberg und bestellt ein Bier. Nach ein paar
       unangenehmen Minuten der Stille, in denen er konsequent jeglichen
       Blickkontakt meidet – und damit seinem Gegenüber jede Gelegenheit nimmt,
       eine Konversation zu beginnen – verschwindet er ohne ein Wort nach draußen.
       Ein paar Zigaretten später stürmt er zurück und sagt: „Wir können
       anfangen.“
       
       Und auf einmal sitzt einem dieser aufmerksame Typ gegenüber. Auf die Frage,
       wo der schlechtgelaunte Kerl von vorhin geblieben ist, antwortet er
       lachend: „Das war nur der falsche Moment.“ Offenbar nicht ohne Grund trägt
       eines seiner „Fragmente“, die kürzlich auf Deutsch erschienen sind, den
       Titel: „Nehmt Schriftsteller nicht zu ernst“. Darin schreibt Serbes, dass
       man die Wahl der Autoren, deren Werke man liest, nicht von deren Taten
       abhängig machen solle, sonst würde ja auch niemand mehr Dostojewski lesen.
       
       Dabei sind es gerade seine Taten, die den türkischen Schriftsteller
       unverkennbar machen. Emrah Serbes, oder „Emrah Serbes ohne t“, wie er sich
       in einem seiner Texte vorstellt (das Wort „serbest“ bedeutet im Türkischen
       „frei“) ist ein klassischer Haudegen. So einer mit Lederjacke, langen
       Haaren und dichtem Schnauzbart, der sich bei Demonstrationen vor die
       Wasserwerfer stellt – wie kürzlich bei der 1.-Mai-Demo in Istanbul, bei der
       die Polizei in gewohnt harter Manier gegen die Demonstrierenden vorging.
       
       Auch während der Gezi-Proteste im Sommer 2013 trat Serbes als Aktivist in
       Erscheinung und avancierte zu einem der Sprecher der Bewegung. Vom ersten
       Tag an solidarisierte er sich mit den Demonstrierenden, stand nächtelang an
       Barrikaden und saß mit auf dem Bagger, den die Jungs von Çarşı – die
       Ultravereinigung des Istanbuler Fußballclubs Beşiktaş – kurzerhand gekapert
       hatten, und damit einen Wasserwerfer der Polizei in die Flucht schlugen.
       
       ## Klage wegen Beleidigung
       
       Serbes teilte aber nicht nur auf der Straße aus. Bekannt dafür, kein Blatt
       vor den Mund zu nehmen, verballhornte er in einer TV-Sendung den Namen des
       damaligen Ministerpräsidenten als Recep „Tazyik“ Erdoğan ("tazyik“ bedeutet
       wörtlich „Druck“, in Anspielung auf das Druckwasser der Wasserwerfer). Als
       er daraufhin wegen Majestätsbeleidigung verklagt wurde – die Istanbuler
       Staatsanwaltschaft forderte 12 Jahre Haft – solidarisierten sich unter dem
       Hashtag #EmrahSerbesYanlızDeğildir (“Emrah Serbes ist nicht allein“)
       Hunderte Menschen mit ihm.
       
       Die Klage wurde fallen gelassen, doch Erdoğan, inzwischen Staatspräsident,
       verklagte Serbes ein zweites Mal wegen Beleidigung, diesmal gemeinsam mit
       Sohn Bilal. Erneut drohen ihm 12 Jahre Haft. Ein Leben im Exil kommt für
       ihn dennoch nicht in Frage.
       
       „Ich bin in der Türkei geboren und aufgewachsen, egal wie zerstritten ich
       dort bin, egal wie hoffnungslos die Situation erscheint, ich lebe und
       schreibe dort, letztlich ist das der Ort, an dem ich mich verwirkliche. Ein
       Mensch ist kein Baum, den man einfach umpflanzen kann.“ Bei seinem nächsten
       Satz lacht er, doch es klingt bitter: „Wenn schon Knast, dann in der
       Türkei, da habe ich zumindest Bekannte, mit denen ich mich unterhalten
       kann.“
       
       Literarisch hat Serbes die Ereignisse des Sommers 2013 in seinem jüngsten
       Roman verarbeitet. „Deli Duman“ (“Wilder Rauch“), das im Herbst im Binooki
       Verlag auf Deutsch erscheinen wird, ist seine Hommage an die Bewegung und
       ihre Helden: „Ich habe die Geschichte jener Kinder geschrieben, die sich
       für ihre Freiheit die Seele aus dem Leib husteten“, sagt er in Anspielung
       auf die Tränengasattacken. Doch anders als erwartet, ist die Gezi-Bewegung
       nicht das Hauptthema der Erzählung – sie dient lediglich als Rahmen, der
       Park spielt eine periphere Rolle.
       
       Im Zentrum des Romans stehen zwei Geschwister und deren Freund, die in
       einem kleinen Küstenort außerhalb von Istanbul wohnen: „Ich habe versucht
       den Gezi-Spirit aus der Sicht eines Jungen zu beschreiben, der die
       Ereignisse zunächst vom Rande aus beobachtet, um dann mitten hinein zu
       geraten.“ So sei es den meisten ergangen, auch ihm persönlich. „Es geht
       aber auch um die Perspektive der Außenseiter, die sich nicht nur räumlich,
       sondern auch gesellschaftlich ausgeschlossen fühlen“, so der Autor.
       
       Mit seinen Geschichten trifft Serbes stets den Nerv der Zeit, seine Sprache
       ist der Straßenjargon, weshalb seine Literatur vor allem Jugendliche
       erreicht. So ist eine Zeile aus seinem Erzählband „Junge Verlierer“ von
       2008 zum Slogan der jungen Demonstrierenden geworden: „Ihr braucht kein
       Tränengas zu schießen, meine Freunde sind von Natur aus sentimental.“
       
       Dennoch merkt Serbes an, dass Aktualität kein primäres Kriterium für seine
       Geschichten sei. Ihm erscheine es als viel wichtiger, dass die Texte auch
       viele Jahre später gelesen werden könnten. „Ich will die Menschen nicht nur
       unterhalten“, sagt er, „sondern zum Nachdenken anregen.“
       
       Schließlich hat auch die Euphorie der Gezi-Bewegung nicht lange angehalten.
       Das Jahr nach Gezi war gezeichnet von Skandalen wie der Korruptionsaffäre,
       in die hochrangige Politiker und der Staatspräsident persönlich verwickelt
       waren – und aus allem ungeschoren davonkamen. Serbes aber glaubt an das
       Ablaufdatum der Regierung: „Früher oder später kommt sie auf den
       Schrottplatz und mit Gezi bröckelte zum ersten Mal ihre Fassade.“
       
       ## Politischer Wandel
       
       Serbes bedauert, dass die Gezi-Bewegung es nicht geschafft habe, eine
       eigene politische Kraft zu entwickeln. Diese Lücke sei aber nun durch die
       linke prokurdische Partei HDP (Demokratische Partei der Völker) geschlossen
       worden, die kürzlich bei den Parlamentswahlen überraschend die
       Zehnprozenthürde geschafft hat.
       
       Die Wahlnacht sei für alle Oppositionellen und Unterdrückten ein großes
       Siegesfest gewesen, meint Serbes: „Ähnlich wie der Erfolg der Syriza in
       Griechenland oder die Erstarkung der Linken in Spanien, hat es die HDP
       geschafft, diese Stimmung aufzufangen. Mit einer klugen Politik, wie zum
       Beispiel der Frauenquote, hat sie bewiesen, dass sie für einen politischen
       Wandel steht.“
       
       Auch Serbes hat dieser Tage sehr gute Laune. Er reist mit seiner Verlegerin
       Selma Wels durch sieben Städte in Deutschland und stellt sein neues Buch
       „Fragmente“ vor. Es ist eine Mischung aus Gedankenexperimenten und
       Kurzgeschichten, in denen Serbes seine Sicht auf die Dinge in der Welt
       erklärt. Wer aber zwischen den Zeilen liest, erhält zudem einen Einblick in
       die verkopfte und sensible Gedankenwelt eines Mannes, der mit dem in der
       Türkei sehr präsenten Bild des elitären Künstlers bricht.
       
       So ruppig das Gespräch in dem Kreuzberger Café auch begann, enttarnt sich
       Emrah Serbes schließlich als Utopist, der am Glauben an eine bessere
       Zukunft festhält: „Es gibt viele großartige Menschen in der Türkei, die das
       politische und gesellschaftliche Potenzial haben, die Welt zu einem
       besseren Ort zu machen.“ Serbes’ Hoffnungen richten sich vor allem an eine
       neue Generation. Spätestens 2050 würde eines der Gezi-Kids
       MinisterpräsidentIn der Türkei werden, sagt er. Bis dahin aber ist noch
       viel zu tun.
       
       5 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Canset Icpinar
       
       ## TAGS
       
   DIR Recep Tayyip Erdoğan
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   DIR Schwerpunkt Türkei
       
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