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       # taz.de -- Anthologie über Popgeschichte: Mut zum heillos Überhöhten
       
       > Das Buch ist dann am stärksten, wenn das Schreiben über Pop selbst zu Pop
       > wird – insgesamt aber ist es nicht auf der Höhe des Diskurses.
       
   IMG Bild: Seit dem letzten Hüftschwung von Elvis ist einiges passiert – nur im Buch kommt das leider nicht vor.
       
       Soll, darf oder kann Schreiben über Pop selbst Pop sein? In dem Band
       „Popgeschichte 1“ ist ab Seite 251 jeder Satz ein Hit. Okay, fast jeder.
       
       Etwa: „1956/57 ist mit Sicherheit das Datum des rapidesten
       Generationenbruchs, den es je gegeben hatte.“ Oder: „Es war geradezu eins
       der Nazi-Kriegsziele gewesen, das Land von der ,falschen Sexualität‚, mit
       der es spätestens seit den Zwanzigern überzogen war, zu befreien und
       anstelle der jüdischen eine andere Form von Sexualität, die deutsche, zu
       setzen, diesen ganzen Komplex von aufstrebender Weltmacht, Herrenrasse, die
       Durchdringung ihrer Körper mit aufgegeilter Welteroberungserwartung,
       geartet von der spezifisch reinen Sexualität des Deutschen. Man kann auch
       sagen: die Kodierung ihrer Sexualität mit Mord und Totschlag.“
       
       Hits sind diese Sätze, weil sie sich angreifbar machen und weil sie Pop mit
       real life befrachten, sogar mit der Jahrtausendaufgabe der Entnazifizierung
       deutscher Körper. Aus den Tiefen des eigenen Körpergedächtnisses formuliert
       Klaus Theweleit, Autor der „Männerphantasien“, geboren drei Jahre vor dem
       Ende des Zweiten Weltkriegs, seine Maximalforderungen an Pop. Und zitiert
       damit einen anderen Ekstatiker und Emphatiker des Augenblicks: „,Es schien,
       als könnte in der Arena des Pop buchstäblich alles geschehen (…).
       
       Die Welt des Pop befand sich in einem Wettrennen mit der Welt an sich, der
       Welt der Kriege und Wahlen, der Arbeit und der Freizeit, der Welt der Armen
       und der Reichen, der Weißen und der Schwarzen, der Männer und Frauen. Und
       1965 konnte man spüren, dass die Welt des Pop im Begriff stand, diesen
       Wettlauf zu gewinnen.‘ Dieser Satz von Greil Marcus ist großartig
       formuliert, wie so oft bei Marcus heillos übertrieben, also unsinnig, und
       gleichzeitig absolut präzise wahrgenommen“, so Theweleit.
       
       ## Deutsche Kriegsheimkehrer
       
       Selbstverständlich spricht Theweleit auch über Theweleit, wenn er über
       Marcus spricht. Pop ist heillos übertrieben. Vor ein paar Jahren beim
       Frankfurter Dylan-Kongress habe ich Klaus Theweleit nach einem anderen
       Greil Marcus-Satz gefragt: „Neulich hörte ich im Autoradio ‚Go West‘ von
       den Pet Shop Boys. Ich hatte ihn eine Weile nicht gehört und plötzlich war
       mir klar: Das ist ‚Like a rolling stone‘, das ist dieselbe Geschichte: Wir
       lassen unser altes Leben hinter uns, wir beginnen ein neues, wir gehen ins
       gelobte Land, das ist unser Schicksal.“
       
       Dann lief „Go West“, Theweleit hob beide Hände vor die Brust, verzog das
       Gesicht und presste nur ein Wort hervor: „Scheißmusik“. Seine Haltung
       ähnelte der von deutschen Kriegsheimkehrern, die 1956 mit Elvis
       konfrontiert wurden. Und sie ähnelte der von Greil Marcus, als ich in den
       90ern beim Interview „Hetzjagd auf Nazis“ von Biochip C & Alec Empire
       vorspielte: „Ist das Depeche Mode auf der falschen Geschwindigkeit?“,
       meinte Marcus, geboren im letzten Weltkriegsjahr, sichtlich angewidert.
       
       Was sagt uns das? Körpergedächtnis ist endlich und man sollte von Männern
       dieser Jahrgänge nicht verlangen, dass sie schwulen Technopop oder Force
       Inc. Breakbeat kapieren und so gut in ihre Welterfassungssysteme
       integrieren können, wie sie das mit Sun Ra, Dylan oder Hendrix geschafft
       haben. Enttäuscht ist man trotzdem, weil Marcus und Theweleit für ein
       Schreiben über Pop stehen, das selbst Pop sein kann, weil es „Pop als
       körperverwandelndes Medium“ versteht und „Popgeschichte als
       Mediengeschichte“ (Theweleit).
       
       Hinter solchen Ansprüchen, die der älteste Autor der Anthologie formuliert,
       bleibt der Rest des Buches zurück. Das könnte daran liegen, dass die
       AutorInnen die Annahme, Schreiben über Pop könnte selbst Pop sein, für
       abwegig halten, für überholt.
       
       ## Wenig extravagant
       
       „Das Schreiben über Pop wurde selbst Pop, der Hip-Intellektuelle selbst zum
       Hipster“, schreibt mit vernehmbarem Naserümpfen Nadja Geer in ihrer
       Abrechnung mit den Altvorderen der popistischen Pop-Kritik „Pop als
       distinktiver intellektueller Selbstentwurf der 1980er Jahre“. So lautet der
       notdürftig als Diagnose verkleidete Vorwurf an die Veteranen, namentlich
       Diedrich Diederichsen, Rainald Goetz und Thomas Meinecke. Die werden wieder
       mal mit Adjektiven belegt, die seit Ewigkeiten Applaus von der falschen
       Seite garantieren: elitär, extravagant und, die Mutter aller Ressentiments:
       arrogant.
       
       Von allzu extravaganten Gedanken bleibt man hier verschont. Stattdessen:
       “Für die seit den 1960er Jahren global verbreitete Popkultur war die Mode
       fast ebenso relevant wie die Musik selbst.“ Wow! „Der Besuch im Tanzlokal
       verhieß ungewisse Begegnungen …“ Echt? „Eine These wäre, dass musikalisch
       geäußerte Kritiken oder Utopien eine wesentlich, nicht nur emotional andere
       Wirkung entfalten als beispielsweise Flugblätter oder Zeitschriften.“
       Steile These. Und wer hätte gedacht, „dass Emotionen in der Popkultur eine
       entscheidende Rolle spielen“?
       
       Dem trostlos unextravaganten Jargon entspricht die theoretische Fallhöhe.
       Ein Begriff wie „subversiv“ wird so inflationär wie unreflektiert
       verwendet, als hätten sich die Bedingungen, unter denen Handeln subversiv
       ist, seit dem ersten Hüftschwung von Elvis nicht verändert.
       
       Zu den meistzitierten Quellen gehört „Mainstream der Minderheiten“. Tom
       Holert und Mark Terkessidis diagnostizierten darin 1996, dass Pop unter den
       Bedingungen der Kontrollgesellschaft fundamental anders funktioniert als
       noch in der Disziplinargesellschaft, und was das etwa für subversive
       Techniken bedeutet. Dabei weist das Buch im Titel darauf hin, wie
       untauglich die Kategorie Mainstream schon damals war, um Dynamiken von Pop
       zu erfassen.
       
       ## Ausblendung des Internets
       
       Aus ideologischem Konformismus und Denkfaulheit halten viele Kritiker bis
       heute am Buhmannkonstrukt Mainstream fest, und sei es bloß, um die von
       ihnen favorisierte Musik jenseits desselben zu verorten. Interessanterweise
       wird so das Jenseits immer größer und der Mainstream immer kleiner. Ähnlich
       gedankenlos wird mit Marketingsprech wie Weltmusik, Alternative oder
       Independent hantiert, wo doch schon 1996 die Fragen auf der Hand lagen: Was
       für eine Welt? Alternative zu was? Independent von wem? 20 Jahre alte
       Diskurse aus “Mainstream der Minderheiten“ werden hier nicht nur nicht
       weitergedacht, vieles fällt hinter den Stand von damals zurück.
       
       Der zweite Band der Popgeschichte versammelt „zeithistorische Fallstudien
       1958 bis 1988“, darunter Lichtblicke wie „La Nuit De La Nation“ über die
       Rock-’n’-Roll-induzierten „moral panics“ im Frankreich der Sechziger oder
       eine Studie über schwarze Weiblichkeit bei Motown. Das Problem dieser
       Popgeschichte besteht allerdings in der zeitlichen Beschränkung. So
       interessant es ist, mal wieder was über Geschlechternormen der Bonner
       Republik zu erfahren oder über Discotanz in der DDR ab 1973: Durch die
       systematische Ausblendung von diesem neuen Dings da, diesem Internet,
       bleibt das Buch in alten Begriffsgefängnissen hocken.
       
       Es ist ein bisschen so, als hätte man 1970 eine Popgeschichte geschrieben,
       ohne das Radio zu berücksichtigen, oder 1990 eine ohne MTV. Nein,
       schlimmer. Denn die Digitalisierung verändert alles im Pop: Produktion,
       Distribution, Konsum, Eigentumsverhältnisse, Modi von Vergesellschaftung
       und Individuierung und so weiter.
       
       Theweleits Text sticht deswegen so raus, weil er sich konfrontiert mit den
       physisch-psychischen Wirkungen von Pop auf den 14-Jährigen oder den
       25-Jährigen, der er mal war; weil er sich – mit Morrissey – fragt: Was sagt
       mir diese Musik über mein Leben?
       
       Ein Defizit der Pop-Kritik der Gegenwart ist, dass sie Gegenwart zu wenig
       wahrnimmt, dass sie zu sehr in überholten Format(ierung)en denkt. Was
       passiert mit Pop und seinen Konsumenten (und Prosumenten), wenn immer mehr
       Musik im öffentlichen Raum konsumiert wird, aber unter privaten Kopfhörern?
       Was bedeutet das Verschwinden von Kofferradio und Ghettoblaster aus dem
       öffentlichen Leben? Warum diese Possessivpronomen: My Space? YouTube?
       YouFM? Wieso besitzanzeigende Fürwörter, wo doch Musik immer weniger
       physisch besessen wird (und besetzt)? Ist privatisierte Musik dem
       öffentlichen Diskurs entzogen? Meine Musik, deine Musik? Alles
       Geschmacksache?
       
       Und warum will keiner mehr Mainstream sein?
       
       9 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus Walter
       
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