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       # taz.de -- Siri Hustvedts „Die gleißende Welt“: Fußnoten gegen die Überforderung
       
       > Siri Hustvedt zeigt in ihrem neuen New-York-Roman die Oberflächlichkeit
       > der Kunstszene. Männliche Selbstdarsteller dominieren.
       
   IMG Bild: Wie ihre Hauptfigur eine hochgebildete, intellektuelle Künstlerin: US-Schriftstellerin Siri Hustvedt
       
       „Die gleißende Welt“, im Original „The Blazing World“, hieß ein Roman der
       englischen Schriftstellerin und Philosophin Margaret Cavendish, Herzogin
       von Newcastle, die im 17. Jahrhundert lebte. Cavendish ist das große
       Vorbild der Heldin von Siri Hustvedts neuem, gleichnamigem Roman „Die
       gleißende Welt“, wobei das Titelzitat natürlich nicht nur als
       Cavendish-Hommage aufzufassen ist, sondern vor allem den oberflächlichen
       Glamour der New Yorker Kunstszene anspricht.
       
       Ebenso wie die altenglische Adlige ist Hustvedts Protagonistin Künstlerin
       und Universalgelehrte, und ebenso wie ihr Vorbild wird sie in einer von
       männlichen Selbstdarstellern dominierten Society nicht in ihrem wahren
       Potenzial anerkannt oder auch nur erkannt.
       
       Harriet – genannt Harry – Burden, verheiratet mit einem einflussreichen New
       Yorker Kunsthändler, Mutter zweier Kinder, macht zeit ihres Lebens Kunst,
       eigenartige Skulpturen, oft Häuser oder Kästen mit surrealistisch
       anmutenden Innenwelten. Hin und wieder werden ihre Werke ausgestellt, aber
       nur wenig von Kritikern besprochen und selten verkauft. Ihr Gatte hat
       anderes zu tun, als das Werk seiner Frau zu fördern, die ihm im Übrigen
       intellektuell haushoch überlegen ist.
       
       Dennoch hat die übersehene Künstlerin sich mit ihrer Rolle lange Zeit
       scheinbar abgefunden, ist ihren Kindern eine liebende Mutter und ihrem
       charismatischen, zu Affären neigenden Mann eine nachsichtige Ehefrau.
       Nachdem Harriets Mann plötzlich verstirbt, durchlebt sie zunächst eine
       tiefe Krise.
       
       ## Erfolg dank falscher Identität
       
       Dann aber entwickelt sie einen kühnen Plan, die absurden
       Wahrnehmungsmechanismen des Kunstbetriebs öffentlich zu machen. Sie sucht
       nach jungen, männlichen Künstlern, um sich deren Identität zu leihen und
       ihr eigenes Werk unter dem Namen der jungen Männer auszustellen.
       
       Der erste Teil des Plans geht auf: Die Ausstellungen werden jedes Mal ein
       großer Erfolg. Doch Harriets eigentliches Ziel, die Bloßstellung der
       blinden, genderbedingten Voreingenommenheit der Kunstwelt, scheint zu
       scheitern, da der prominenteste ihrer männlichen Namensleihgeber sich
       schlicht weigert, öffentlich auf seine Autorschaft zu verzichten.
       
       Auch Siri Hustvedt ist als Autorin eine hochgebildete, intellektuelle
       Künstlerin, dazu noch eine, die sich einst in Interviews fragen lassen
       musste, was für ein Gefühl es sei, als Autorin an der Seite eines so
       berühmten Gatten wie Paul Auster zu agieren. Mittlerweile dürfte das
       Aufmerksamkeitsverhältnis fast umgekehrt, mindestens aber ausgeglichen
       sein.
       
       Vielleicht ist es sogar von Vorteil, im saturierten New Yorker
       Intellektuellenbiotop aus einer Position der vermeintlichen
       Unterprivilegiertheit heraus schreiben zu können. Und auch wenn Gefühle des
       künstlerischen Minderbeachtetseins für die gefeierte Schriftstellerin
       längst Vergangenheit sein dürften, ist es doch gerade ihr Frau-Sein, das
       Hustvedt dazu berechtigt, sich des Themas der vergessenen, verkannten
       Künstlerin anzunehmen.
       
       ## Vor ironischer Uneigentlichkeit glitzern
       
       Sie tut das auf eine gleichzeitig hochvirtuose und spielerische Art, die
       vor ironischer Uneigentlichkeit glitzert. Unter anderem spiegeln sich in
       Hustvedts eigenem literarischen Vorgehen die künstlerischen Verfahren der
       von ihr erfundenen Harriet Burden.
       
       Wo Burden für ihre Werke eine männliche Fake-Urheberschaft sucht, erfindet
       Hustvedt für ihren Roman eine fiktive Autorfigur, eine/n Wissenschaftler/in
       namens Hess. Diese Person, die von unbestimmter Geschlechtslosigkeit
       bleibt, leitet den Roman – der damit ironisch den Charakter einer
       wissenschaftlichen Materialsammlung zugewiesen bekommt – mit einem
       umfangreichen Vorwort ein, in dem die Geschichte Burdens grob umrissen und
       die Materiallage erläutert wird.
       
       Der Rest des Romans ist eine Komposition aus zahlreichen verschiedenen
       Stimmen. Auch damit zitiert Hustvedt ein zentrales Werk ihrer Harriet
       Burden, nämlich eine überlebensgroße Frauenplastik, auf die zahlreiche
       Texte aufgeklebt wurden. Während es sich bei diesen offenbar überwiegend um
       philosophische Zitate handelt, sind die Texte, die Hustvedts Roman
       ausmachen, meist erzählerische Passagen unterschiedlicher Persönlichkeiten.
       Harriet Burden selbst kommt häufig zu Wort, in Form von Einträgen aus ihren
       zahlreichen Notizbüchern, die, wie die Autorfigur eingangs erläutert,
       tagebuchähnliche Passagen enthalten, aber auch philosophische
       Fragestellungen und freie Assoziationen.
       
       Burdens nächste Angehörige und Freunde steuern Berichte bei, und die
       Autorfigur I. V. Hess tritt mehrfach als Interviewer auf.
       Selbstverständlich runden zahlreiche akademische Fußnoten den Text ab. So
       entsteht das multiperspektivische Porträt einer Frau als Künstlerin, das am
       Schluss fast ein bisschen zu stark ausgeleuchtet erscheint und bezüglich
       ihrer Person fast keine Fragen mehr offen lässt.
       
       Zum Glück klafft an ganz anderer Stelle eine Erklärungslücke. Ausgerechnet
       der letzte und erfolgreichste der drei Künstler, die von Harriett Burden
       als fiktive Urheber ihres Werks ausgesucht wurden, jener, der die
       Urheberschaft an ihrem gemeinsamen Werk in der Öffentlichkeit immer für
       sich reklamiert hat, kann nicht mehr darum gebeten werden, seine
       Perspektive auf Burdens Leben und Wirken beizusteuern. Genau wie Burden
       selbst ist er zur Zeit der Abfassung von I. V. Hess’ Buch bereits tot.
       
       ## Überreflektierte Selbstreferentialität
       
       Die Leerstelle, die er hinterlässt, wird durch die Berichte der anderen nur
       teilweise gefüllt, sodass sich ein überraschend widersprüchliches Bild
       seiner Person und seiner Beziehung zur Künstlerin Harriet Burden ergibt, in
       dem etliche Fragen offen bleiben. Dadurch erhält Hustvedts Roman einen
       Dreh, der ihn zum Schluss doch noch heraushebt aus der großen New Yorker
       Nabelschau und aus der Gefahr, sich vor lauter überreflektierter
       Selbstreferentialität blind in den Schwanz zu beißen.
       
       Auch dem Vorwurf, einen allzu wohlfeilen intellektuellen Feminismus zu
       bedienen, hat Hustvedt sich mit ihrer ambivalenten Aufwertung einer
       männlichen Nebenfigur erfolgreich entzogen. Das ist geschickt und
       lebensklug.
       
       Vielleicht, diese Einsicht scheint immerhin als schwache Ahnung durch,
       könnte das Leben am Ende doch mehr sein als die Kunst. Aber da es eben so
       wahnsinnig schwer zu fassen ist, braucht es die Kunst, um sich darin zu
       spiegeln. Und natürlich die Wissenschaft. Denn da kann man einfach immer,
       wenn einem die Komplexität der Welt über den Kopf zu wachsen droht, eine
       Fußnote machen.
       
       8 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina Granzin
       
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