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       # taz.de -- 10 Jahre nach den Anschlägen in London: Sousse schreckt auf
       
       > Am 7. Juli 2005 wurden in London 52 Menschen bei Anschlägen getötet. Die
       > Regierung gedenkt – und bildet eine Antiterrortruppe.
       
   IMG Bild: Menschen in London gedenken der jüngsten britischen Terroropfer im tunesischen Sousse
       
       London taz | Mehrere britische Boulevardzeitungen druckten in der
       vergangenen Woche Fotos einer Gruppe osteuropäischer Obdachloser ab. Diese
       hatten es sich mit Kartons, Schlafsäcken, Taschen und Koffern vor einer
       Gedenkstätte mitten im Londoner Hyde Park bequem gemacht. „Jemand“ will
       gesehen haben, so wurde berichtet, dass „die osteuropäische Bande,“ sogar
       auf dem Andachtsplatz etwas gegessen und die Umgebung als Toilette benutzt
       haben soll.
       
       Die Zeitungen zitierten auch Jacqui Putnam, 64, eine von etwa 700
       Überlebenden der Londoner Terroranschläge vom 7. Juli 2005 (7/7), zu dessen
       Andenken die Gedenkstätte errichtet worden war. Putnam bezeichnete die
       Obdachlosen als respektlos.
       
       Allem Anschein nach hatte die Gruppe keine Ahnung, dass der zehnte
       Jahrestag der Selbstmordattentate auf Londons Zivilbevölkerung in diesen
       Tagen bevorsteht und die Gedenkfeiern begonnen haben. In Regierungskreisen
       zog man dabei Parallelen zwischen London und der tunesischen Hafenstadt
       Sousse, wo bei einem Anschlag 30 Briten getötet wurden.
       
       Das ist der größte Blutzoll britischer Bürger seit dem 7. Juli 2005. Damals
       kamen 52 Menschen ums Leben, als drei U-Bahn-Waggons und ein öffentlicher
       Bus von vier Selbstmordattentätern aus dem Norden Englands in die Luft
       gesprengt wurden.
       
       ## Aktionen gegen den Fundatemntalismus
       
       Wegen Sousse hat Premierminister David Cameron nun eine neue 130 Mann
       starke Antiterroreinheit als Maßnahme bilden lassen. Vielleicht war sie
       auch schon vorher geplant, denn seit einem Jahr ist die Anschlagsgefahr in
       Großbritannien vom Sicherheitsdienst MI5 als sehr hoch eingestuft worden.
       
       Für Esther Hyman und ihrer Familie bedeutet Sousse nicht mehr als irgendein
       anderer Terrorakt, von dem sie hören, behauptet sie. Ihre Schwester Miriam
       war ein Opfer des 7. Juli. Drei Jahre nach dem Attentat gründete die
       Familie zum Gedenken an Miriam ein Kinderbehandlungszentrum für
       Augenerkrankungen in Indien.
       
       Diese Woche stellte sie ein Erziehungsprogramm für SchülerInnen vor, das
       für alle Schulen verfügbar ist. „Widerstandsfähigkeit“ bedeutet hier „die
       Fähigkeit, sich gegen die Indoktrination von Extremisten und gegen die
       Philosophie des Hasses wehren zu können, was Aufgabe aller sei,“ erklärt
       Esther Hyman.
       
       Während Hyman am Dienstag an Gedenkveranstaltungen teilnehmen wird, sind
       sich viele andere Londoner kaum des traurigen Jubiläums bewusst. Auch drei
       Angestellte der Londoner U-Bahn, die während der Mittagspause auf Bänken
       des Bahnhofsvorplatzes Kings Cross sitzen, wo sich tief unten einer der
       Attentäter vor zehn Jahren in die Luft jagte, sind wenig besorgt. Sie
       bezeichnen das Londoner U-Bahn System als „das sicherste der Welt“.
       
       Doch für Comrul Mohammed, 34, aus Nordlondon, hat sich seit 9/11 und 7/7
       sehr viel verändert, erzählt er an der U-Bahn-Haltestelle Edgware Road.
       Auch hier explodierte am 7. Juli ein U-Bahn-Waggon. Es sei die Art und
       Weise, wie er seitdem als Mensch beurteilt werde.
       
       ## Unschuldiger Brasilianer erschossen
       
       Besonders schlimm sei es, wenn über Terrorakte in den Medien berichtet
       werde. „Manchmal gebe ich meinen Nachnamen deswegen gar nicht erst an“,
       erklärt der muslimische Londoner und Brite, dessen Eltern aus Bangladesch
       stammen.
       
       Doch weder er noch sonst jemand erwähnt ein weiteres mit dem 7. Juli
       verbundenes Opfer. Jean Charles de Menezes wurde am 22. Juli 2005 von einem
       Polizeikommando an einer Südlondoner U-Bahn-Haltestelle erschossen. Weil er
       vor der Polizei wegrannte, nahm das Kommando an, der Brasilianer sei ein
       Selbstmordattentäter.
       
       Zwar hat die Familie 100.000 Pfund Entschädigung erhalten. Doch ein
       Strafverfahren gegen die Polizei ließ das englische Rechtssystem nicht zu.
       Nun liegt der Fall beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Das
       Urteil steht noch aus.
       
       Harriet Wistrich, die Anwältin der Familie, meint die Polizei habe nicht
       gerade viel aus dem Fall gelernt. Auch heute gäbe es immer wieder Opfer von
       Polizeigewalt, ohne dass Beamte zur Rechenschaft gezogen würden. Eine
       Gedenktafel an der U-Bahnhaltestelle Stockwell erinnert an De Menezes.
       
       Am Dienstag wird auch in der Cooperative Bank bei Angel eine Gedenktafel
       enthüllt werden. Am 7. Juli 2005 wurde die hier arbeitende Shahara Islam,
       damals 20 Jahre als, auf ihren Weg zur Arbeit eins der 52 Opfer der
       Attentate.
       
       Zehn Jahre lang erinnerte nichts im öffentlichen Bereich der Bank an diesen
       tragischen Verlust. Erst jetzt konnten sich Angestellte und Kunden
       durchsetzen, auch hier eine kleine Erinnerungstafel für die Opfer des
       extremen Fanatismus und Hasses zu installieren.
       
       Am Tavistock-Square, wo der einzige Bus am 7. Juli gesprengt wurde, soll
       bald eine größere Erinnerungsstätte geschaffen werden. Immerhin lässt sich
       dieser kleine Stadtpark, in dem sich eine Statue Gandhis befindet, anders
       als der Hyde Park abends abschließen. Osteuropäische Obdachlose werden
       draußen bleiben müssen. Sogar in London gibt es Grenzen der Toleranz.
       
       7 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Zylbersztajn
       
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