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       # taz.de -- Angela Merkel und Griechenland: Gegen das Bauchgefühl der Deutschen
       
       > Die Kanzlerin steht vor einem historischen Moment. Ändert sie ihren Kurs?
       > Der Verbleib Griechenlands im Euro, Merkel muss ihn nur wollen.
       
   IMG Bild: Angela Merkel tastet sich durch die europäische Krise, mit kleinen Schrittchen, immer auf Sicht.
       
       Berlin taz | Vor welcher Aufgabe die Bundeskanzlerin steht, wird klar, wenn
       man ein paar Bild-Ausgaben nebeneinander legt. Bild schrieb für Angela
       Merkel eine Regierungserklärung und druckte sie auf einer halben Seite:
       „Wir dürfen uns nicht erpressen lassen.“ Bild montierte Merkel eine
       preußische Pickelhaube auf den Kopf: „Wir brauchen die Eiserne Kanzlerin.“
       Und Bild ließ seine Leser über die Griechenland-Hilfe abstimmen: „89
       Prozent sagen nein!“
       
       Bekanntlich besitzt die größte Boulevardzeitung Europas einen guten Riecher
       für Volkes Stimme. Eine Mehrheit der Deutschen steht neuen Milliardenhilfen
       für das verschuldete Land skeptisch gegenüber, Bild verstärkt diesen Trend
       nach Kräften. Was für eine fürchterliche Situation für eine Kanzlerin, die
       ihre Politik gerne feinsinnig nach dem Mainstream ausrichtet.
       
       Wollte Merkel die Griechen in der Eurozone halten, müsste sie gegen das
       Bauchgefühl der Deutschen entscheiden. Die Kanzlerin, die gerne vage
       bleibt, müsste wirklich führen. Und sie, die in Beliebtheitsrankings stets
       vorne steht, würde sich damit sehr unbeliebt machen. Nicht nur bei Bild.
       
       Am Sonntag kommt es nun wohl endgültig zum Showdown in dem zähen Ringen um
       die Griechenland-Rettung. Dann entscheiden die StaatschefInnen aller 28
       EU-Mitgliedsstaaten, ob sie mit der linken Syriza-Regierung eine neue
       Hilfslinie gewähren. Athen hat eine weit gehende Reformliste vorgelegt, die
       Griechen haben also ihren Teil vor dem Ultimatum erfüllt.
       
       Jetzt liegt es an Merkel, an ihr allein. Am Ende wird es darauf ankommen,
       was die Regierungschefin der stärksten Volkswirtschaft in Europa sagt.
       Formal wird es zwar als Votum vieler Beteiligter verkauft. Nicht nur die 28
       reden ja mit. Die EU-Finanzminister tagen am Samstag, die Gremien des
       Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank tun das
       ebenso. Aber klar ist auch: Wer das Geld hat, bestimmt. Ohne Deutschlands –
       und damit Merkels– Plazet läuft nichts.
       
       ## Weltpolitik verdichtet sich
       
       Selten verdichtet sich Weltpolitik so sehr wie in diesen Tagen. Das Wort
       „historisch“ wird ja gerne überstrapaziert, aber dieses Mal ist es durchaus
       angebracht. Merkel steht vor einem historischen Moment in ihrer
       Kanzlerschaft. Will sie allein die Verantwortung für einen Austritt
       Griechenlands aus der Eurozone tragen?
       
       Es wird einsam um die Deutsche, die einen „klassischen Haircut“, also einen
       Schuldenschnitt, stets ablehnte. Frankreichs Präsident wirbt herzlich für
       den Verbleib Athens im Euro. IWF-Chefin Christine Lagarde fordert eine
       Umschuldung, ebenso EU-Ratspräsident Donald Tusk. Schwenkte die deutsche
       Kanzlerin um, stünden auch Jean-Claude Juncker und Martin Schulz an ihrer
       Seite, die beiden wichtigen Entscheider in EU-Kommission und Parlament. Und
       SPD-Chef Sigmar Gabriel sowieso.
       
       Merkel besitzt die Fähigkeit, eigene Fehler zu korrigieren. Nach der
       Atomkatastrophe in Fukushima entschied sie sich blitzschnell für eine
       radikale Abkehr von der alten CDU-Position, dabei wusste sie die Angst der
       Deutschen hinter sich. Traut sie sich in der Griechenland-Frage auch gegen
       die Angst der Deutschen zu entscheiden?
       
       ## Merkels Stoizismus
       
       Merkels Stoizismus wirkt ja manchmal geradezu lähmend langweilig. Doch in
       all der Hektik ist sie der ruhige Pol der Bundesregierung. Die CSU hetzt
       über „Volksbelüger und Geisterfahrer“ der Syriza-Regierung, auch Gabriel
       profiliert sich mit markiger Rhetorik. Er machte das Referendum zu einer
       Frage von „Ja oder Nein zum Verbleib in der Eurozone“. Die Realität hat
       diese Behauptung des SPD-Chefs längst widerlegt. Merkel vermeidet tunlichst
       solche Festlegungen. Dafür ist sie zu vorsichtig, zu kontrolliert – und
       auch zu klug. Bei ihr muss man genau hinhören, um Stimmungslagen zu
       erkennen.
       
       In ihrer Regierungserklärung vor einer Woche betonte sie, dass die Eurozone
       dank diverser Rettungsinstrumente stark genug sei, um griechische
       Turbulenzen auszuhalten. Also auch einen Grexit? Außerdem hoben Merkel und
       ihre Vertrauten jüngst hervor, wie wichtig Kompromissfähigkeit in Europa
       sei. Ohne jenen Wesenszug, so Merkel, sei der Staatenbund verloren.
       
       Da schimmert dann doch recht deutlich die Genervtheit über Alexis Tsipras’
       Volten durch. Merkels berühmter Satz – „Scheitert der Euro, scheitert
       Europa“ – wird im Umfeld der Kanzlerin in diesen Tagen nicht mehr
       ausschließlich als Solidaritätsverpflichtung interpretiert, sondern als
       Abwägung: Welche Entscheidung destabilisiert die Eurozone mehr? Ein
       Austritt Griechenlands oder die blinde Toleranz gegenüber einer
       betonköpfigen Linksregierung?
       
       ## Langsam, sehr langsam
       
       Athens Regierung, so die Botschaft der Kanzlerin, könne sich nicht in
       Sicherheit wiegen. Gleichzeitig räumte Merkel diese Woche erstmals offen
       ein, dass es jetzt um ein drittes Hilfspaket gehe – lange ein Tabu. Und
       Wolfgang Schäuble gab zu, nun werde auch über Schuldenerleichterungen
       gesprochen. Langsam, sehr langsam bereitet die Kanzlerin ihre mögliche
       Wende vor. Sie weiß, dass es darum geht, wie ihre Ära später einmal von
       Historikern bewertet werden wird.
       
       Ein Ausscheiden aus dem Euro würde Griechenland in noch schlimmere
       Turbulenzen stürzen, Deutschland wäre zu humanitärer Hilfe verpflichtet.
       Vor allem aber wäre es ein fatales Signal an die ganze Welt. Die EU müsste
       zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen desintegrierenden Rückschritt
       verkraften. Merkel hätte mit dem geeinten Europa Helmut Kohls gebrochen.
       
       Ein Punkt, der selten erwähnt wird, aber ebenfalls wichtig ist:
       Griechenland ist zwar volkswirtschaftlich schwach, aber geostrategisch
       bedeutsam. Würde sich der Mittelmeerstaat, der Europa mit einem
       Nato-Stützpunkt vom Nahen Osten abschirmt, stärker nach Russland oder China
       orientieren, wäre das eine Schwächung, die sich schwer in Euros aufrechnen
       lässt.
       
       Merkel hat sich in den vergangenen Jahren entsprechend verhalten. Sie
       tastete sich durch die europäische Krise, mit kleinen Schrittchen, immer
       auf Sicht. Merkel handelte oft übervorsichtig und spät – wie ein lernendes
       System, das sich mit einiger Zeitverzögerung selbst korrigiert. Ihr
       Austeritätsdiktum ergänzte sie im Laufe der Jahre mit Wachstumspolitik,
       ohne je davon grundsätzlich abzurücken. Aber sie setzte sich eben auch
       beharrlich dafür ein, dass Griechenland dabei bleibt.
       
       Am engagiertesten wohl Anfang 2012, als es um das zweite Milliardenpaket
       für Griechenland ging. 130 Milliarden Euro, heiß umkämpft. Damals liefen
       tiefe Risse durch die schwarz-gelbe Fraktion, in FDP, CSU aber auch in
       Merkels CDU mehrten sich Stimmen, für den Austritt Griechenlands. Merkels
       Werben für neue Kredite überzeugte am Ende, sie bekam ihre Mehrheit
       zusammen. Das Unbehagen in der Union ist seither gewachsen.
       
       ## Pakt mit dem Leibhaftigen
       
       Ein drittes Hilfsprogramm, über das die Staatschefs am Sonntag diskutieren,
       müsste vom Bundestag beschlossen werden. Jenes aber ist für viele
       Unionsleute wie ein Pakt mit dem Leibhaftigen. Schon bei der jüngsten
       Griechenland-Abstimmung im Februar stimmten 29 Abgeordnete von CDU und CSU
       gegen die Verlängerung der Hilfen. Schlimmer für die Fraktionsspitze war,
       dass über 100 Parlamentarier in persönlichen Erklärungen aufschrieben, wie
       groß ihre Bauchschmerzen inzwischen seien. Wohlgemerkt, das war vor dem
       Referendum und vor der Nein-Kampagne der Tsipras-Regierung.
       
       Merkel hat also nicht nur die Bild-Zeitung und die Mehrheit der Deutschen
       gegen sich, sondern auch eine wachsende Zahl der eigenen Abgeordneten. Jene
       touren im Moment durch ihre Wahlkreise, wo sie mit dem Volkszorn über die
       bunte Tsipras-Truppe konfrontiert werden. Und sie erinnern sich noch gut an
       die Wochen der Eskalation, in denen sich Schäuble und der ehemalige
       Finanzminister Gianis Varoufakis beschimpften wie Rohrspatzen.
       
       In der Griechenland-Frage sind so viele Ressentiments im Spiel, dass
       rationale Positionen leicht untergehen. Die kühle Merkel, der überbordende
       Gefühle in der Politik fremd sind, weiß das natürlich. Dennoch ist klar:
       Entscheidet sich die Kanzlerin für neue Griechenland-Hilfen, würde ihr die
       Fraktion folgen. Der Machterhalt steht in der Union immer über inhaltlichen
       Bedenken.
       
       Bleibt Griechenland im Euro? Merkel muss es nur wollen.
       
       11 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Schulte
       
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