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       # taz.de -- Grüne über koloniale Erinnerungskultur: „Noch viele blinde Flecken“
       
       > Ulle Schauws, kulturpolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion,
       > über die fehlende Reflexion der deutschen Kolonialherrschaft.
       
   IMG Bild: Deutsche im Kampf gegen die Hereros, 1904.
       
       taz: Frau Schauws, gehört Erinnerungskultur zu den Grundfesten eines
       demokratischen Staats? Wo muss er lenkend eingreifen, wann sollte er sich
       vornehm zurückhalten? 
       
       Ulle Schauws: Erinnerungskultur geht alle Menschen an. Sie darf niemanden
       ausschließen. Kollektives Erinnern kann sich nicht gegen andere Kollektive
       richten. Das heißt, es geht in der Debatte zur Erinnerungskultur auch um
       den Kampf um historische Wahrheiten. Erinnerungskultur ist daher
       konfliktorientiert. Gedenkrituale, so wichtig sie sind, verdecken dieses
       Konfliktpotenzial und auch andere Perspektiven — so etwa von Menschen mit
       Migrationsgeschichte. Es geht also um einen Aushandlungsprozess. Und der
       spielt aus meiner Sicht im öffentlichen Gedenken eine noch viel zu geringe
       Rolle.
       
       Heißt „konfliktbeladen“, dass Meinungen auseinandergehen? 
       
       Es gibt Unterschiede, so wie es subjektive Wahrnehmungen gibt. Grundlage
       einer demokratischen Gesellschaft ist, dass alle Menschen mit dem, was sie
       mitbringen, und dem, was sie erinnern, in ihr vorkommen müssen. Aber diese
       Veränderung, die wir gesellschaftspolitisch in den letzten 70 Jahren auch
       als Einwanderungsgesellschaft vollzogen haben, bildet sich in „unserer
       deutschen“ Erinnerungskultur nicht ab.
       
       Im Zeitraum der letzten 70 Jahre liegt die Geschichte der Bundesrepublik.
       Können Sie anhand einiger für Sie bedeutsamer Gedenkorte und -rituale
       benennen, wie Erinnerungskultur Teil dieser Geschichte war? 
       
       Die 68er haben sicherlich ihre Elterngeneration zuerst damit konfrontiert:
       Was ist im Dritten Reich passiert? Warum habt ihr euch nicht gegen den
       Nationalsozialismus gestellt? Diese von der Zivilgesellschaft erkämpfte
       Debatte über Verschweigen und Verdrängen hat dazu beigetragen, dass die
       Aufarbeitung des Nationalsozialismus vorankam. Zuvor war in diesem Land
       eine gewisse Unfähigkeit spürbar, eine Unfähigkeit zu trauern, zur
       Schuldanerkennung einzelner Personen. Ein zentraler Einschnitt in der
       bundesdeutschen Geschichte, auch für mich persönlich, war die
       Erstausstrahlung der TV-Serie „Holocaust“ 1979. Diese schauten wir
       gemeinsam zu Hause. Die Serie hat das Erinnern an die NS-Gräueltaten und
       das millionenfache Schicksal vieler Menschen sehr geprägt. Jahre später hat
       die Wehrmachtsausstellung Debatten entfacht. Auf staatlicher Ebene war die
       Rede Richard von Weizsäckers wichtig, 40 Jahre nach Kriegsende. Sie hat
       dazu beigetragen, dass anders erinnert wurde und sich Deutschland nicht
       mehr so leicht als Opfer darstellen konnte. Der 1996 ins Leben gerufene
       Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus ist natürlich sehr wichtig.
       
       Erinnerungskultur bleibt also nicht statisch? 
       
       Nein, sie ist in Bewegung, so wie auch Sprache immer in Bewegung ist. Es
       ist die Geschichte unseres Einwanderungslands. Vor diesem Hintergrund gibt
       es noch viele blinde Flecken.
       
       Die deutsche Kolonialherrschaft in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen
       Namibia, endete am 9. Juli 1915. Was sind die drängendsten Aufgaben, um
       diesem Thema überhaupt gerecht zu werden? 
       
       Die fehlende Auseinandersetzung Deutschlands mit dem Thema hat vielleicht
       auch damit zu tun, dass sich Deutschland immer als die kleinere, sozusagen
       „harmlosere“ Kolonialmacht sah. Trotzdem, es hat die Massenmorde in Afrika
       gegeben und Deutsche haben hier viel Unrecht begangen.
       
       Sie nehmen Bezug auf den Herero-Aufstand? 
       
       Genau. Unsere Aufgabe ist es daher, eine Auseinandersetzung mit dem
       Kolonialismus in Gang zu bringen und ihn mit anderen historischen Perioden
       in Beziehung zu setzen. Es ist nicht nur so, dass wir eine historische
       Verantwortung haben, der Kolonialismus gehört auch zur Vorgeschichte der
       Globalisierung. Daraus ergeben sich aktuelle Fragen: Wie hat
       kolonialistisches Denken unser Bewusstsein verändert und wirkt es bis heute
       fort? Interessanterweise wird in der Flüchtlingsdebatte das Thema
       Kolonialismus ja weitgehend ausgeblendet, obwohl die Flüchtlingsbewegungen
       ohne den Kolonialismus gar nicht zu denken sind.
       
       Etwa die willkürlichen kolonialen Grenzziehungen, die in Afrika existieren? 
       
       Die Entwicklung der sogenannten Ersten, Zweiten und Dritten Welt hat
       natürlich mit der Kolonialgeschichte zu tun. Und die Auswirkungen 100 Jahre
       später auszublenden, so wie dies etwa das Auswärtige Amt tut, das geht
       nicht. Bis heute prägen kolonialistische Bilder unser Denken und unsere
       Vorstellungen des „Fremden“. Wir brauchen daher eine kritische
       Auseinandersetzung mit rassistischen Kolonialbildern in unserer
       Gesellschaft. Rechte Kräfte wie Pegida oder AfD bedienen sich dieser
       manchmal nur unbewussten Bilder.
       
       Sprechen Sie damit auch alte Straßennamen an, die umbenannt werden sollten? 
       
       Es fehlt an der Sensibilität, zum Beispiel Straßen, die Namen von
       einschlägigen Kolonialisten tragen, umzubenennen. Da ist bisher wenig
       Bewusstsein da, dass man dies ändern muss. Umso wichtiger sind
       zivilgesellschaftliche Initiativen wie Berlin Postkolonial oder Freiburg
       Postkolonial, die sich für Umbenennungen einsetzen. Es ist interessant,
       dass wie bei der Aufarbeitung des NS auch jetzt wieder die
       Zivilgesellschaft ihre Stimme erheben muss, damit etwas passiert.
       
       Was würden Sie sagen, ist innerhalb des Kontextes der Kolonialzeit am
       dringlichsten? 
       
       Unsere Erinnerungskultur ist auch davon geprägt, dass wir die Verantwortung
       übernehmen für das, was passiert ist. Dazu gehört eben, sich dort, in den
       Ländern, in denen man für Massenmorde verantwortlich war, entschuldigt und
       offiziell anerkennt, dass das ein Völkermord war. Das ist ein erster
       Schritt, der staatlich passieren muss, um sich weiter auseinandersetzen zu
       können. Es geht um Respekt vor denen, die auf der anderen Seite am
       Verhandlungstisch, etwa in Namibia, sitzen. Man redet viel miteinander, es
       gibt gemeinsame Projekte. Aber es ist trotz allem allein an Deutschland,
       klar zu benennen, was passiert ist. Verantwortungsübernahme lässt sich
       nicht im Dialog klären. Nicht nur, dass Erinnerungskultur bewahrt und
       erweitert werden muss.
       
       Sie sprechen auch davon, dass die Einwanderer, die zu uns kommen, eigene
       Themen mitbringen, an die sie sich erinnern. Was bedeutet das? 
       
       Der Knackpunkt ist, dass es im Prinzip gar keinen Resonanzboden gibt für
       diese Erinnerungen. Weder in Schulbüchern noch in Gedenkstätten gibt es
       Konzepte, in denen Menschen mit Migrationsgeschichte ihre Erinnerungen,
       ihre Verfolgungsgeschichten und Opfererfahrungen widergespiegelt sehen. Es
       fehlt an einer systemischen Beschäftigung, und das muss Teil des
       Aushandlungsprozesses werden. Inklusion und Teilhabe müssen sich auch in
       den Formen und Formaten der Erinnerungskultur etablieren.
       
       Die Pädagogin Astrid Messerschmidt hat von der
       „prämigrationsgesellschaftlichen Bewusstseinslage“ gesprochen, die in der
       Phase nach der Wiedervereinigung eine eingehende Beschäftigung mit
       Deutschland als Einwanderungsland verhindert habe. Hat denn die rot-grüne
       Koalition zu ihrer Regierungszeit bei diesem Thema auch etwas verschlafen? 
       
       Wir haben unter Rot-Grün angefangen, dieses Brett zu bohren. Die
       Anerkennung der gesellschaftlichen Grundtatsache, dass wir eine heterogene
       und eine Einwanderungsgesellschaft sind. Da muss es weitergehen. Aber wir
       sind jetzt an einer Stelle, wo wir mit einer sehr sichtbaren rechten
       Bewegung konfrontiert werden, die die Grundtatsache des Einwanderungslands
       infrage stellt. Es wird wieder die Unterscheidung „Da sind wir und da sind
       die“ aufgemacht. Das reicht bis in die bürgerliche Mitte. Deshalb müssen
       wir für die Vielfalt der Gesellschaft jeden Tag aufs Neue kämpfen.
       
       Wie beurteilen Sie die Erinnerungskultur des Regierungslagers? Sehen Sie
       auf dem Feld der Erinnerungskultur Verbesserungsbedarf? 
       
       Im Koalitionsvertrag wurde angekündigt, dass die Aufarbeitung der NS-Zeit
       in den Ministerien vorangebracht werden soll. Das ist ursprünglich eine
       Initiative von uns Grünen gewesen, die Joschka Fischer im Auswärtigen Amt
       begonnen hat. Renate Künast hat dies als Ministerin im
       Landwirtschaftsministerium ebenfalls gemacht. Und die Bundesregierung hat
       jetzt nach vielen Jahren Stillstand nicht wirklich etwas vorangebracht.
       Gerade im Kanzleramt wird die Aufarbeitung nicht in Angriff genommen. Wir
       müssen die Bundesregierung treiben. Genauso muss man aber den blinden Fleck
       Kolonialismus dann auch in den Blick nehmen. Darum haben wir zur
       Aufarbeitung der Kolonialgeschichte jetzt einen Antrag eingebracht und
       gesagt, diese Auseinandersetzung muss nun endlich stattfinden.
       
       Was muss Erinnerungskultur leisten, um zukunftsfähig zu sein? 
       
       Ich will keine Reihenfolge machen. Aber es ist wichtig, die deutschen
       Verbrechen nicht zu vergessen.
       
       8 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julian Weber
       
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