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       # taz.de -- Demo für Rechte von Behinderten: Party statt Pathologisierung
       
       > Bei der Pride Parade demonstrieren Menschen mit psychiatrischer Diagnose
       > und Behinderung für mehr Selbstbestimmung und gegen das Konzept der
       > Inklusion.
       
   IMG Bild: Wir sind ok so, wie wir sind - die Verhältnisse müssen sich ändern: Teilnehmer auf der Pride Parade 2014 in Berlin
       
       „Wir feiern, bis der Arzt kommt“, sagt Matthias Vernaldi und grinst. Er
       gehört zum Bündnis der Organisator_innen, das bereits im dritten Jahr die
       „Mad and Disability Pride Parade“ für Menschen mit Behinderungen und
       psychiatrischer Diagnose organisiert.
       
       „Freaks, Krüppel, Verrückte, Taube und Normalgestörte sind eingeladen, sich
       zu feiern“, heißt es im Aufruf. Und: Wir werden „unsere Buckel und schiefen
       Hüften, unsere sogenannten Neurosen und Verhaltensauffälligkeiten“ auf die
       Straße tragen“.
       
       „Wir sind gut so, wie wir sind, die Verhältnisse, in denen wir leben, sind
       es nicht“, fasst Mitorganisatorin Ella Metzer* das Motto der Demonstration
       zusammen.
       
       Das trifft offenbar einen Nerv: Vor zwei Jahren nahmen 1.000 Menschen an
       der Parade teil, im vergangenen Jahr waren es bereits 2.000. Neben vielen
       Redebeiträgen wird auch die „Glitzernde Krücke“ verliehen: Der ironisch
       gemeinte Preis wird für „besondere Verdienste“, beispielsweise den
       geschickten Einsatz behinderten Humankapitals, verliehen. Letztes Jahr
       gewann die Behindertenwerkstatt Cuxhaven, in der Rüstungsteile produziert
       werden. Sie zeige sich konsequent, lasse Waffen von Behinderten fertigen,
       durch die dann neue Behinderte produziert würden, heißt es zugespitzt in
       der Begründung.
       
       Es sind diese Zustände, die die Veranstalter_innen zynisch werden lassen.
       Was derzeit als Inklusion gilt, ist für sie nicht mehr als
       „Inklusionsreklame“: „Das ist meist bloß ein Label, das auf Einrichtungen
       klebt, weil es sonst keine Gelder gibt. Dabei ist die Realität zum Kotzen“,
       sagt Vernaldi. Er fordert, Einrichtungen für Menschen mit Behinderung
       konsequent abzubauen: „Behindertenwerkstätten beispielsweise sind nicht
       inklusiv. Dass dort arbeitende Leute vom Mindestlohn ausgenommen sind,
       zeigt, dass die nicht dazugehören.“
       
       ## Inklusion ist ein Hohn
       
       Für jene, die zwangsweise in Psychiatrien untergebracht sind, sei Inklusion
       sowieso ein Hohn, ergänzt Metzer: „Man ist weggesperrt, völlig isoliert.“
       Von Selbstbestimmung sei der Alltag in psychiatrischen Einrichtungen weit
       entfernt, erzählt sie, die selbst psychiatrieerfahren ist: „Ärzt_innen
       legen fest, welche Erkrankung du hast. Siehst du das anders oder wehrst
       dich gegen Behandlungen, wird das als Ausdruck der Krankheit abgestempelt.“
       Therapie heiße da vor allem, Medikamente zu nehmen.
       
       Vor allem den Zwang, in der kapitalistischen Gesellschaft funktionieren zu
       müssen, sieht Metzer als Ursache für psychische Erkrankungen. Wer das nicht
       kann, werde aussortiert, bestätigt auch Vernaldi. Für ihn sind
       Internierungen jedoch auch Ausdruck davon, dass wegsperrt wird, wovor
       Menschen Angst haben: „Verrückt oder behindert will man ja nicht sein.
       Darum muss das aus dem Blick.“ Besonders brutal findet er die derzeit so
       populären Patientenverfügungen, deren Devise letztlich laute: Macht mich
       lieber tot, als dass ich alt, krank oder abhängig von der Hilfe anderer
       bin.
       
       Wie Inklusion aussehen könnte, zeigt die Pride Parade: Redebeiträge werden
       in leicht verständlicher Sprache gehalten, es gibt Übersetzungen zwischen
       Laut- und Gebärdensprache und Möglichkeiten zum Ausruhen für jene, denen
       das Gehen oder Stehen lang wird.
       
       Dass manche Menschen an der Demo nicht teilnehmen können oder wollen, ist
       den Veranstalter_innen klar: „Bei manchen ist die Scham zu groß, weil sie
       ständig Stigmatisierungen erleben, andere sind in Psychiatrien weggesperrt,
       wieder andere können wegen Aufenthaltsbestimmungen nicht anreisen“, sagt
       Metzer. Leuten mit Depressionen sei vielleicht auch gar nicht zum Feiern
       zumute. In diesem Jahr gibt es deshalb einen „Traurigen Wagen“, auf dem im
       Gegensatz zum Rest der Demo nicht gefeiert wird.
       
       Mit ihrer Forderung nach Rechten für Menschen mit Behinderungen und
       psychiatrischen Diagnosen, ihrer grundlegenden Kritik an Normen von
       Leistung und Schönheit kann die Parade auch eine Demo für jene sein, die
       sich vielleicht gar nicht angesprochen fühlen: Nicht nur kann jeder Mensch
       durch Unfall, Alter oder eine psychische Krise in eine andere
       Lebenssituation geraten, mein Vernaldi – mit Konkurrenzdruck und
       Schönheitsidealen ist jede_r im alltäglichen Leben konfrontiert. Der Aufruf
       lautet also: „Her mit dem schönen Leben für alle“ *Name geändert
       
       10 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hilke Rusch
       
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