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       # taz.de -- Witwen in Afghanistan: Die Stadt der „Kopffresserinnen“
       
       > In Kabul haben sich Witwen einen eigenen Stadtteil gebaut.
       > Gesellschaftlich haben sie keinen Schutz, hier gewinnen sie Respekt
       > zurück.
       
   IMG Bild: Bibikoh, die Großmutter der Berge, mit ihren vier Enkelkindern.
       
       Niemand in Kabul weiß, wann Sanabad entstand. In der Landessprache Dari
       bedeutet der Name „von Frauen errichtet“ oder auch „Frauenstadt“. Weder die
       Witwen noch die örtlichen Behörden erinnern sich, wann Frauen den ersten
       Stein für die Siedlung legten. Es soll während des politischen Chaos Anfang
       der 1990er Jahre gewesen sein, als die Regierung des zuvor von der
       Sowjetunion gestützten Präsidenten Nadschibullah zusammenbrach.
       
       Die Zahl der Witwen in Afghanistan ist hoch. Offizielle Daten gibt es
       nicht. Schätzungen gehen von 1,5 bis 2,5 Millionen Betroffenen im Land –
       und damit über 10 Prozent der Bevölkerung – aus.
       
       Der Zusammenbruch nach der sowjetischen Besetzung schuf neben allem Chaos
       auch Freiräume. Regierungseigenes Land, wie der steinige Hügel am damaligen
       südöstlichen Stadtrand von Kabul, auf dem Sanabad zu wachsen begann, war
       auf einmal herrenlos. Sanabad wurde Teil eines Viertels namens Karte-ja Nau
       (“neues Quartier“), auch dies eine Ansiedlung von Bürgerkriegsflüchtlingen.
       
       Heute hat Karte-ja Nau vielleicht eine Million Einwohner und liegt fast
       zentral in Kabul, diesem von Binnenflüchtlingen wohl auf vier Millionen
       Einwohner gewachsenen Moloch ohne adäquate Infrastruktur.
       
       ## Verstoßen und beleidigt
       
       Irgendwann Anfang des neuen Jahrtausends kam Bibi ul-Zuqia, Mitte 60 ist
       sie und wird von allen nur Bibikoh, Großmutter der Berge, genannt, nach
       Sanabad. Sie wurde zum Motor der ungewöhnlichen Frauengemeinschaft dort.
       Bibikohs erster Ehemann starb, als eine Rakete in ihr Haus einschlug. Das
       war in Parwan, einer Provinz nördlich von Kabul. Ihr zweiter Mann, ein
       Bruder des ersten und Kämpfer bei den Mudschaheddin, starb im Krieg.
       
       Ihre zweite Witwenschaft veränderte Bibikohs Status. Plötzlich galt sie als
       schlechtes Omen und verlor, trotz ihrer sechs Kinder, den Respekt und die
       Unterstützung der Verwandten. Sie nannten sie kala-khor, Kopffresserin. Man
       stieß sie aus der Gemeinschaft aus.
       
       Frauen in Afghanistan werden über Männer definiert. Vor der Hochzeit ist
       eine Frau die Tochter des Vaters, danach die Ehefrau des Mannes. Sie ist
       Besitz, sogar Ware, und sie verkörpert die „Ehre“ der Familie, die
       unbedingt beschützt werden muss. Verwitwete Frauen werden deshalb in den
       Augen der Gesellschaft zu Frauen „ohne Identität“ – und damit ohne Schutz;
       sie werden zu deg-e be-sarposch – Töpfen ohne Deckel. Witwen gelten als
       wirtschaftliche Belastung. Diese Einstellung verstärkt sich noch in
       Kriegszeiten, wenn Familien unter zusätzlichem Druck geraten.
       
       Bibikohs Leben nahm eine neue Wendung, als ihr eine befreundete Witwe von
       Sanabad erzählte und sie ermutigte, sich der dortigen Frauengemeinschaft
       anzuschließen. Für 5.000 Afghani Schmiergeld – etwa 100 Dollar und viel für
       eine Witwe – an die örtliche Polizei, die ein Waffendepot auf dem Hügel
       bewachte, wurde ihr erlaubt, sich ein Stück Land zu nehmen und ihr Haus
       darauf zu bauen. Zwei Zimmer hat es, gekocht wird in einer Ecke. Bibikoh
       erinnert sich, wie schwer es war, vor allem am Anfang. Ein ungeschriebenes
       Gesetz sagt, wenn man über Nacht die vier Wände des Hauses eineinhalb Meter
       hochzieht, darf die Regierung einen nicht mehr hinauswerfen.
       
       Ohne gegenseitige Hilfe war das für die Witwen nicht zu schaffen. Eine von
       ihnen, die schüchterne Humaira, vielleicht Ende 30, nennt diese Zeit
       „bittere Medizin“. Die Bauarbeit „ist oft über meine körperlichen Kräfte”
       gegangen, aber ihr eigenes Haus in dieser Gemeinschaft zu errichten, habe
       sie auch „geheilt”, denn es habe ihr lebenslanges Obdach gegeben.
       
       Bibikoh erzählt, dass die Frauen manchmal auch ihre Häuser verteidigen
       müssen. Sie selbst habe Steine auf Polizisten geworfen, als diese eine
       andere Witwe prügelten; manchmal versuchte die Polizei nämlich, die Frauen
       doch zu vertreiben. Manchmal, ergänzt Humaira, sei die Polizei aber auch
       ein Schutz. Ohne die nächtlichen Streifen am Waffenlager hätte sie sich nie
       sicher genug gefühlt mit ihren fünf Kindern. Es käme eben darauf an, wer
       Dienst habe.
       
       Das bestimmte und unabhängige Auftreten der Witwen brach Tabus. Deshalb
       hätten auch andere Nachbarn anfangs den Kontakt vermieden. Manchmal wurden
       sie als Prostituierte beschimpft. Inzwischen aber respektiere man sich
       gegenseitig, schließlich lebten alle in ähnlich schwierigen
       wirtschaftlichen Verhältnissen.
       
       Respekt den Witwen gegenüber stellte sich auch ein, weil Bibikoh anfing,
       die Witwen über den Hausbau hinaus zu organisieren. Über Jahre fanden
       Alphabetisierungskurse, aber auch Treffen, um alltägliche Ereignisse zu
       diskutieren, in ihrem Haus statt. Die Frauen saßen dabei auf dem Boden.
       
       ## Zwei Gemeindepolizistinnen
       
       Die Lebensbedingungen waren schwierig. Damals gab es in Sanabad weder
       Wasser noch Strom. Wasser mussten sie unten holen und die steilen Hügel
       hinaufschleppen, über unbefestigte, lehmige Wege, die bei Regen matschig
       und kaum zu bewältigen sind.
       
       Bibikoh fand zudem Sarghuna, eine Lehrerin, die mithilfe von Care
       International, einer NGO, Kurse in Gesundheitsversorgung gab. Aus zwölf
       Witwen bestand Bibikohs Kerngruppe. Sie unterstützten die Neuankömmlinge
       auf dem Hügel und organisierten mit der NGO Lebensmittelhilfen – Mehl, Öl
       und Bohnen – für die besonders Bedürftigen. Elf Jahre lang hätten um die
       400 Witwen von dieser Hilfe profitiert. Die Arbeit gab Bibikoh verlorenen
       Respekt zurück.
       
       Sarghuna, die Lehrerin, die den Witwen vom Berge das Lesen und Schreiben
       beibrachte, meint, dass die Treffen der Frauen auch psychologisch wichtig
       gewesen seien. So hätten sie über die schmerzhaften Geschichten ihres
       vergangenen Lebens sprechen können. Dass sich die Frauen in Sanabad sicher
       fühlten, ergänzt Humaira, habe ein Gefühl von „Schwesterlichkeit“ entstehen
       lassen. Neu Ankommende, darunter nicht nur Witwen, sondern auch geschiedene
       Frauen, die sich oft besonderen Anfeindungen ausgesetzt sehen, wurden den
       Tag über – manchmal auch des Nachts – bei all ihrem Tun begleitet. Anisa,
       eine andere Witwe, meint, mit dem geteilten Schmerz und der gemeinsamen
       Arbeit seien die Frauen sarposch, Schutzdeckel, füreinander geworden.
       
       Die Siedlung von Sanabad ist inzwischen auf 500 Witwen- und 500 andere
       Haushalte angewachsen. Viele der Witwen, nun alphabetisiert, haben reguläre
       Jobs gefunden. Einige arbeiten als Haushaltshilfen, andere bereiten
       traditionelle Speisen zu und verkaufen sie auf Märkten. Eine Handvoll
       unterrichtet an der Mädchenschule von Sanabad. Bibikoh und Anisa sind
       inzwischen sogar bei der Regierung angestellt als eine Art
       Gemeindepolizistinnen. Nur wenige müssen noch auf den Straßen betteln.
       
       ## Offizielle Landttitel fehlen
       
       Die Siedlung wirkt heute farbenfroh. Die Häuser sind gestrichen. In
       Bibikohs Haus liegen rote afghanische Teppiche. Aber die Fenster sind immer
       noch mit Plastikfolien bedeckt; Glas ist zu teuer. Draußen wurde ein
       Großteil des Kriegsschrotts weggeräumt – Wracks von Panzern, Geschützen und
       Raketenwerfern.
       
       Humaira hofft, von Nachbarn Land kaufen und darauf ein zweites Haus für
       ihre Eltern bauen zu können. Anisa hat ihr Zweithaus schon fertig und
       vermietet es für 3.000 Afghani (60 Dollar). Im vorigen Jahr hat die
       Regierung auch Wasser- und Stromanschlüsse auf den Hügel gelegt und die
       Mädchenschule übernommen. Damit erkannte sie das Recht der Witwen an,
       offiziell dort zu leben. Nur die Straße auf dem Hügel ist immer noch
       staubig, steil und schwer zu begehen.
       
       Bibikoh sagt, man sei dabei, die Regierung zu bewegen, den Frauen
       offizielle Landtitel zu geben. Dann, so hofft sie, würde das Viertel auch
       im offiziellen Stadtplan eingetragen. Das würde Sanabad vollständig
       legalisieren.
       
       Übersetzung und Bearbeitung: Thomas Ruttig
       
       18 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Naheed Esar
       
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