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       # taz.de -- Betreuung für Demenzkranke: Leben in vertrauten Bahnen
       
       > Die Gesellschaft altert, immer mehr Menschen werden an Demenz erkranken.
       > Wie können sie leben? Eine Hamelner Einrichtung gibt Antworten.
       
   IMG Bild: Das gewohnte Leben fortführen – soweit es geht: Wilma Dohmeyer beim Einkauf im Minisupermarkt in Tönebön am See
       
       Hameln taz | „Ich geh’ mal nach Hause“, sagt Wilma Dohmeyer. „Ich muss
       Essen kochen.“ Frau Dohmeyer hat fünf Kinder, in ihrem Zimmer hängt ein
       Bild von ihnen – vorsorglich hat jemand die Vornamen daneben geschrieben.
       Dem Alter, in dem ihre Mutter für sie gekocht hat, sind die fünf längst
       entwachsen – sie dürften zwischen 50 und 60 Jahre alt sein.
       
       Frau Dohmeyer ist sorgfältig angezogen, graue Hose, der Pullover gestreift,
       in den Ohren trägt sie zu ihren kurzgeschnittenen grauen Haaren
       Silberkreolen. Ihre Rente sei heute durchgekommen, erzählt sie
       unvermittelt. Sie sitzt in einem großen Kunstledersessel in ihrem Zimmer,
       im Fenster steht eine Orchidee, im Käfig zwitschert ein Kanarienvogel. In
       welcher Lebensphase Frau Dohmeyer gerade unterwegs ist, ist nicht zu
       klären. Sie lächelt.
       
       Wilma Dohmeyer ist eine von 45 Bewohnerinnen und Bewohnern in „Tönebön am
       See“. Julius Tönebön aus Hameln war Ziegeleibesitzer, der nach Kriegsende
       sein Vermögen in eine Stiftung gesteckt hat, die seither als lokaler
       Anbieter rund ums Alter tätig ist. 40 Frauen, fünf Männer leben derzeit in
       Tönebön am See, die Jüngste ist 50 Jahre alt, die Älteste Anfang 90. Seit
       März 2014 ist die Einrichtung im Aufbau, 52 Plätze sind vorgesehen.
       
       In den Zeitungen als Deutschlands erstes Demenzdorf angekündigt, wird
       Tönebön am See von den Betreibern als „Lebensraum für Menschen mit Demenz“
       bezeichnet. Der Begriff Dorf trifft es nicht richtig: 18.000 Quadratmeter,
       vier Fußballfelder, misst die Anlage mit ihren Bungalows und dem begrünten
       Innenhof. Ein 1,20 Meter hoher Maschendraht umzäunt sie, damit keiner der
       gelegentlich desorientierten Bewohner abhandenkommt.
       
       ## Überschaubar wie ein Dorf
       
       Die Bezeichnung Dorf suggeriert Überschaubarkeit und Heimeligkeit und hat
       viel mit dem niederländischen Vorbild zu tun – „De Hogeweyk“, das große
       Demenzdorf, das seit seiner Eröffnung von Experten lebhaft diskutiert wird.
       Ein ähnliches Projekt im hessischen Alzey platzte. So ist Tönebön Vorreiter
       in Deutschland.
       
       „Wir sind anders, und wir wollen auch anders sein“, sagt Qualitätsmanagerin
       Kerstin Stammel, 45, die das Konzept miterarbeitet hat. „Wir versuchen die
       Bewohner so wenig wie möglich zu beschränken.“ Der Eingang gleicht einer
       Hotelhalle mit Café und Minisupermarkt. Nach innen und hinten wirkt Tönebön
       wie eine Kita, nur eben für Alte. Alles ist ebenerdig, helle Farben, die
       Bungalows farblich abgestuft, im begrünten Innenhof gibt es einen Parcours
       über ungleichen Untergrund, Balancetraining für die Bewohner. An diesem
       Morgen ist niemand unterwegs.
       
       Elf Menschen haben sich stattdessen bei Frau Weber in der
       „Gedächtnisgruppe“ eingefunden. Sie spielen „Stadt- Land-Fluss“. Der
       Buchstabe E ist dran. „Wenn jemand fünfmal Eisenach sagt, dann ist das eben
       so“, sagt Weber hinterher. „Geduld und Empathie – mehr braucht man nicht.“
       Wilma Dohmeyer will jetzt nach Hause. „Essen kochen.“ In der
       Gedächtnisgruppe wird Erinnerungsarbeit geleistet. Oft reden sie über
       früher. Dabei helfen Märchen und Lieder. Frau Weber, 52, hat vorher bei der
       Sparkasse gearbeitet, ihre neue Arbeit gefällt ihr. „Wir lachen viel.“
       
       ## Kaffee, Wäsche, Einkauf
       
       Frau Weber ist Alltagsbegleiterin – ein Berufsbild, das erst mit der
       Pflegereform 2008 geschaffen wurde. Auch Sven Theinert, ihr Assistent, hat
       diese Zusatzqualifikation. Zuvor arbeitete er als Altenpfleger. „Da geht so
       viel Zeit für die Pflege drauf. Gespräche finden kaum statt.“ Auch
       Qualitätsmanagerin Stammel ist das wichtig: „Was uns abhebt, ist, dass der
       Alltag mitgelebt, mitgestaltet wird.“ Kaffee kochen, Wäsche waschen und
       aufhängen, Kleinigkeiten einkaufen, beim Kochen helfen. Jeder darf, keiner
       muss mithelfen.
       
       Und nicht jeder kann. Im Fernsehraum eines Hauses dösen mehrere Bewohner
       auf Liegen. Sie wirken gebrechlich. Nicht alle sind so fit, dass sie
       Kartoffeln schälen könnten. „Aber was sie können, soll erhalten bleiben“,
       sagt Frau Weber. „Im Heim wird einem sonst alles abgenommen.“ Noch ist
       Tönebön relativ „jung“, niemand ist bisher ganz bettlägerig. Die
       Unterbringung ist etwa 200 Euro teurer als in einem vergleichbaren Heim.
       
       Vier Wohnhäuser sind eröffnet, in jedem sind bis zu 13 Personen in
       Einzelzimmern untergebracht. Jede „Villa“ verfügt über Aufenthaltsraum mit
       Kochinsel, Gemeinschaftsküche und Fernseh- und Ruhebereich. Im „Reiterhof“
       sitzt eine zartgliederige Frau am Tisch, ganz still, früher war sie
       Yogalehrerin. Ihr Blick ist leer, sie wartet auf ihren Sohn. Manche essen
       allein, andere zu zweit, der Saal leert sich, die ehemalige Yogalehrerin
       wartet weiter.
       
       ## „Ich find’s ideal hier“
       
       Herr Schnell quatscht noch mit den Mitarbeiterinnen, seine Mutter hat er
       schon aufs Zimmer gebracht. 96 ist sie und weil Montag ist, war sie bei der
       Friseurin, die einmal in der Woche ihren Laden öffnet. „Ich find’s ideal
       hier“, sagt Herr Schnell, er schaut fast täglich vorbei. „Wo meine Mutter
       vorher war, das ging alles nicht mehr: mehrstöckiges Haus, verwinkelt, mit
       Fahrstuhl. Für jemanden, der orientierungslos ist, nicht machbar.“
       
       Herr Schnell gehört zum Angehörigenrat. Dass sich andere am Maschendraht
       stören, versteht er nicht. Mit seinen 1,20 Meter wirkt er eher wie ein
       Gartenzaun. „Wir bieten den Bewohnern, die oft einen hohen Bewegungsdrang
       haben, einen geschützten Raum“, sagt Kerstin Stammel. „Hinlauftendenz“
       heißt das, erklärt Leiterin Christine Boss-Walek, weil die Demenzkranken
       innerlich „ein Ziel haben“ – auch wenn sie es nicht verorten können. Ein
       Bewohner laufe beispielsweise immer wieder vor die Tür, weil vor Jahren
       sein Auto abgeschleppt wurde. Er will nachzuschauen, ob es noch da ist,
       auch wenn er längst kein Auto mehr fährt.
       
       Insgesamt 45 Mitarbeiter hat die Einrichtung, viele in Teilzeit. Hausarzt
       und Neurologe kommen einmal im Monat, erklärt die Leiterin. Neben
       lebenswichtigen Medikamenten gäbe es nichts, nichts zur Ruhigstellung. Da
       müssen sie eben laufen. Wie Herr Harms, ein ehemaliger Staatsanwalt, der im
       Jogginganzug an dem von Frau Weber und Sven Theinert geleiteten Spaziergang
       teilnimmt. Sie gehen hinaus, durch Schrebergärten. Die Sonne scheint. Herr
       Harms, groß und hager, drückt sich ebenso kunstvoll wie vage aus. Er sieht
       „mannigfache Möglichkeiten“ und spricht von Dingen, die „vonstatten
       gewesen“ sind.
       
       ## Jeder soll seinen gewohnten Stil leben
       
       In De Hogeweyk würde Harms vermutlich zur Wohngruppe mit „gehobenem“
       Lebensstil gehören. Nicht nur, dass das niederländische Demenzdorf mit
       seinen 150 Bewohnern größer ist als Tönebön am See, dort werden die
       Bewohner einem Stil zugeordnet, der ihrem früheren Leben entspricht:
       gehoben, traditionell, christlich, indonesisch, urban, häuslich. Das soll
       den oft ängstlichen Demenzkranken einen vertrauten Rahmen bieten. Seither
       pilgern Experten und Politiker dorthin, um sich das Konzept anzuschauen. Es
       soll für die Bewohner alles so weitergehen wie Zuhause – nur unter
       Aufsicht.
       
       In De Hogeweyk liegt die Gewichtung etwas mehr bei „Simulation des
       Alltags“, in Hameln schwört man auf aktive Alltagsbewältigung. „Wir gaukeln
       den Bewohnern nichts vor“, sagt Kerstin Stammel. Auch sie war in De
       Hogeweyk. „Von den Holländern habe ich gelernt, eine Vision zu haben.“
       Experten beklagen eine „Gettobildung“, kritisieren, dass De Hogeweyk eine
       Scheinwelt sei mit fingierter Bushaltestelle. „Die haben wir ganz bestimmt
       nicht“, sagt Stammel. Tönebön liegt am Stadtrand, ohne öffentliche
       Verkehrsanbindung. Natürlich sei sie für Inklusion, „aber bei Demenzkranken
       stößt sie an ihre Grenzen.“
       
       Auch der Berliner Architekt Eckhard Feddersen, schwarzer Anzug, rotes
       Einstecktuch mit weißen Punkten, war zunächst skeptisch gegenüber De
       Hogeweyk. „Ich bin als Saulus gefahren und als Paulus wiedergekommen.“
       Feddersens Spezialgebiet sind Einrichtungen für alte Menschen. „Ich denke
       Architektur absolut von innen“, sagt er, „schöne Fassaden ergeben sich
       trotzdem.“ Er meint Kategorien wie Dunkelheit und Helligkeit, Wärme und
       Kälte, die Orientierung schaffen. Der Architekt hat viele Heime geplant,
       oft für körperlich und geistig Behinderte, auch für Menschen mit Demenz.
       „Demenzkranke brauchen kleinere Einheiten“, sagt er, kürzere Wege und eine
       „intuitiv erfahrbare Übersichtlichkeit“.
       
       ## Flure für Orientierungslose
       
       Feddersen, 69, redet ruhig, manchmal scheinen seine Augen hinter der
       schwarzen Brille dabei fast geschlossen. „Wir beleuchten zum Beispiel die
       Türen statt den Flur“, sagt er, weil die Menschen instinktiv ihre Tür
       suchten. So finden sich Orientierungslose leichter zurecht. Auf diese Weise
       zu bauen, sei nicht teurer, „man muss nur anders denken“. Feddersen und
       seine Kollegen versuchen Farbklänge zu entwickeln, Materialklänge, die bei
       Alten und Kranken positive Gefühle auslösen.
       
       Das ermöglicht vielleicht eine „Annäherung an den Menschen, der man mal
       war“, sagt Feddersen. Im Gespräch mit ihm entsteht vor dem inneren Auge
       eine altersfreundliche Welt. Es mag hart sein, wenn diese Visionen auf
       bürokratische Hürden und finanzielle Vorgaben treffen. 1,4 Millionen
       Demenzkranke leben derzeit in Deutschland. Bis 2050 werden es doppelt so
       viele sein.
       
       Am Nachmittag steht in Hameln ein alter Herr mit Rollator vor der Tür zum
       Innenhof. Eben noch hat er Kaffee getrunken. Nun weiß er nicht, wo er hin
       will. „Ich steh da wie der Ochs vor’m Berg“, sagt er. „Was machen wir denn
       da?“, fragt ihn Frau Weber. „In einer Viertelstunde gibt es Sitzgymnastik.
       Ich hol Sie ab.“
       
       18 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabine Seifert
       
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