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       # taz.de -- Militärkrankenhaus in der Ukraine: Reden, rauchen, heilen
       
       > Im ostukrainischen Charkiw sorgen Freiwillige für die Evakuierung und
       > Betreuung von verwundeten Soldaten. Ein Besuch.
       
   IMG Bild: Ein Verwundeter soll per Hubschrauber ins Militärkrankenhaus nach Charkiw gebracht werden
       
       „Ihre Papiere, bitte!“ Der Mann hinter der Scheibe am Eingang zum
       Krankenhaus ist freundlich, aber hartnäckig. Er hat darüber zu wachen, dass
       niemand das „militärmedizinische klinische Zentrum der Nordregion A-3306“
       ohne Erlaubnis des Inlandsgeheimdienstes SBU betritt oder verlässt.
       
       Doch bevor der Journalist aus Deutschland antworten kann, ruft Viktoriia
       Miliutina dem Pförtner „Der Mann ist von der Apotheke“ zu und zieht ihren
       Gast einfach ins Innere des Hauses. „Viktoriia, mein Täubchen, ich konnte
       doch nicht wissen, dass er dein Gast ist. Klar kann er rein, entschuldige
       bitte“, ruft der Mann mit der Hornbrille ihr etwas verlegen hinterher.
       
       Eigentlich hätte Viktoriia Miliutina auch die Wahrheit sagen können. Es
       sind eher die Militärs, die vor der 46-Jährigen, die offiziell Beraterin
       des Charkiwer Gouverneurs ist und in dieser Funktion für die Zusammenarbeit
       der Gebietsverwaltung mit der „Anti-Terror-Operation“ zuständig, besonderen
       Respekt haben.
       
       Im Charkiwer Militärkrankenhaus führt kein Weg an ihr und ihrem lokalen
       Team von „Help Army“ vorbei. Viele verletzte Soldaten, die hier behandelt
       werden, sind Miliutina und den anderen Freiwilligen sehr dankbar, haben
       diese doch ihr Leben gerettet, sie oft durch ihre schnelle Arbeit vor einer
       Amputation bewahrt.
       
       Dutzende Verletzte schon habe „Help Army“ von der Front in das sichere
       Hinterland, darunter auch ins Charkiwer Militärkrankenhaus, evakuiert. Und
       jeder dieser Einsätze, sagt Miliutina, sei lebensgefährlich. „Die
       Terroristen schießen auch auf Evakuierungswagen.“
       
       ## Die Exilgemeinde hilft
       
       Gemeinsam mit ihrem Partner Andrej Taube, einem deutschstämmigen Ukrainer,
       der sich seine Brötchen mit dem Handel von Motorrädern verdient, hatte
       Viktoriia Miliutina vor einem Jahr begonnen, die Evakuierung der Verletzten
       von dem Charkiw am nächsten gelegenen Frontabschnitt zu organisieren. Die
       Armee, meint Miliutina, sei mit dieser Aufgabe überfordert gewesen. Erst im
       Mai dieses Jahres habe die Armee eine eigene Sanitätseinheit geschaffen,
       die Verletzte evakuiert.
       
       „Am Anfang hatten wir nur einige ausrangierte gepanzerte Geldtransporter
       von Bankinstituten, die wir für wenig Geld erhalten haben“, berichtet
       Miliutina. Leider seien die nicht sehr geländegängig. Gepanzerte
       Militärfahrzeuge kann sich die Gruppe eigentlich nicht leisten. Wäre da
       nicht die Unterstützung von Exil-Ukrainern in Italien und Kanada, sagt
       Andrej Taube, hätte man die Evakuierungen gar nicht durchführen können. Der
       Staat sei zwar kooperationsbereit, doch finanzielle Unterstützung gebe es
       nicht. Darum müssen sie „im Prinzip“ sogar die aus dem Ausland
       eintreffenden Hilfsgüter verzollen.
       
       „Help Army“ arbeitet eng mit den ukrainischen Streitkräften zusammen. Doch
       wenn es sein muss, scheut Viktoriia Miliutina, von Haus aus Kinderärztin,
       den Konflikt mit Offizieren der Armee nicht. „Sehen Sie sich das mal an.“
       Wütend holt sie ihr Handy aus der Tasche und zeigt den Umstehenden Fotos
       mit schimmligen Mohrrüben und Kartoffeln. „Ich hab das Foto soeben dem
       Militärstaatsanwalt zugeschickt. Der Kommandeur der Einheit, wo man unseren
       Kämpfern so etwas auf den Tisch stellt, wird sich warm anziehen müssen.“
       Viktoriia Miliutina, mit einer großen Tasche frischer Medikamente unter dem
       Arm, setzt sich ein für ihre Männer im Militärkrankenhaus und an der Front.
       Und die lieben ihre Viktoriia.
       
       ## Krankenhaus mit Tradition
       
       Das Charkiwer Militärkrankenhaus, 1877 von Kaiser Alexander II. gegründet,
       ist weit mehr als nur das hässliche Hochhaus, das man von der „Straße der
       Kultur“ aus sieht. Während des Ersten Weltkriegs wurden hier 1.500 Soldaten
       gleichzeitig versorgt, derzeit hat das Haus 500 Betten. Seit Beginn des
       Konflikts im Donbass sind die Ärzte und das Personal rund um die Uhr im
       Einsatz, alle Betten immer belegt. Auch Grenzschützern, Polizisten,
       Milizionären steht das Militärkrankenhaus offen.
       
       Eine Tür führt in den Garten des Militärkrankenhauses. Ein kleines Dorf mit
       viel Grün, liebevoll angelegten Gärten und vielen Holzbänken tut sich dem
       Besucher auf. Männer sitzen oder stehen in Gruppen zusammen. Doch der
       Schein trügt: Die Anwesenden sprechen nicht miteinander. Wer sich hier im
       Garten aufhält, der macht vor allem zwei Dinge: rauchen und telefonieren.
       
       Lediglich zwei Soldaten in Kampfuniform, die vor einem Sanitätswagen
       stehen, scheinen Bereitschaftsdienst zu haben, sie sprechen miteinander.
       Alle anderen Männer in diesem Garten sind einheitlich dunkelblau gekleidet.
       Nur die Ärzte tragen Hellblau. Einige Patienten tragen auch nur ein
       olivgrünes Shirt über der blauen Hose. Der einzige Lichtblick in den
       Grünanlagen des Krankenhauses sind die farbig gekleideten Frauen von der
       Organisation „Schwestern der Barmherzigkeit“, die mit Miliutinas „Help
       Army“ eng zusammenarbeitet. Die Gruppe hat auf dem Gelände des
       Militärkrankenhauses einen eigenen Raum.
       
       ## Kleine Botengänge
       
       Geduldig stehen die schweren Jungs in ihren Krücken und Verbänden auf dem
       geteerten Weg vor dem Raum der „Schwestern“ Schlange, bis sie an die Reihe
       kommen. Ein erster Blick in die gelb gestrichene Kammer gibt fünf
       Rollstühle und eine Gitarre frei. Hinter einer kleinen Theke stehen Lena
       und Oxana vor einer Wand, die mit Ikonen und Heiligenbildern geschmückt
       ist. Hinter ihnen türmen sich auf hohen Holzregalen Seife, Shampoos,
       Rasierklingen und Süßigkeiten. Ein Kühlschrank, gefüllt mit Speiseeis,
       surrt vor sich hin. „Alles Spenden von Patrioten aus Charkiw“, erklärt die
       Juristin Lena, die an diesem Tag in der gelben Kammer ihren Dienst schiebt.
       „Die Klinik ist froh, dass es uns gibt. Die könnten so was gar nicht
       organisieren.“
       
       Doch die meisten Männer, die bei Lena und Oxana anstehen, wollen keine
       Lebensmittel, Zigaretten oder Hygieneartikel. Da sie das Militärkrankenhaus
       nicht verlassen dürfen, bitten sie Lena und Oxana um Botengänge. „Was ist
       der Pin deiner Bankkarte?“, erkundigt sich Oxana bei einem Soldaten mit
       schwarzem Bart. Der Mann hat ihr seine Bankkarte gegeben, damit sie ihm
       eine entsprechende Summe vom Konto abhebt. Und mit diesem Geld, sagt der
       Soldat, solle die Helferin sofort sein Mobiltelefon aufladen.
       
       „Geben Sie mir doch bitte noch ein Shampoo für meinen Kameraden auf dem
       Zimmer mit. Er kann noch nicht laufen“, bittet ein Mann, der an einer
       Krücke geht. „Nein, wir machen jeden Tag unseren Rundgang, und dann finde
       ich in den Zimmern selbst heraus, was gebraucht wird“, entgegnet Oxana. Ihr
       ist es wichtig, auch die Patienten regelmäßig zu sehen, die nicht von sich
       aus in den Garten des Krankenhauses kommen können.
       
       Ein Soldat mit einer gebrochenen Hand in der Armschleife ergreift mit der
       anderen Hand Viktoriias Arm: „Viktoriia, kannst du dich dafür einsetzen,
       dass ich mit meinem Operationstermin vorgezogen werde? Ich hab solche
       Schmerzen hier oben im Arm.“ Miliutina verspricht ihr Bestes zu tun und
       geht weiter zu einer Gruppe rauchender Männer. Im Krankenhaus kennt man die
       Freiwilligen. „Sergej, hier ist ein patriotischer Journalist aus
       Deutschland“, wendet sie sich an einen kettenrauchenden Patienten. „Erzähle
       ihm doch mal etwas über deine Situation.“
       
       ## Sich freikaufen lehnt Sergej ab
       
       Sergej bricht das Telefonat ab und berichtet: „Ich bin nicht freiwillig in
       den Krieg gezogen. Anfang des Jahres rief mich meine Mutter weinend an und
       gestand mir, dass sie in meinem Namen den Eingang des Einberufungsbefehls
       unterzeichnet habe.“ Juristisch gesehen reicht die Unterschrift der Mutter
       nicht aus – die Einberufung muss laut Gesetz persönlich überreicht werden.
       Aber das wussten der 34-Jährige und seine Mutter offensichtlich nicht.
       
       Gefreut habe er sich nicht über die Einberufung, meint Sergej, „aber
       irgendwer muss ja unser Land verteidigen. Mich per Bestechung vom
       Militärdienst freizukaufen, das ist nicht mein Ding.“ Und so hat er sich
       wenige Tage später auf den Weg zum Wehramt gemacht und seinen Dienst
       angetreten. „Ich habe vieles im Krieg gesehen. Dinge, die das Fernsehen nie
       gezeigt hat. Ja, in der Realität ist es noch mal ganz anders als im
       Fernsehen – viel schrecklicher. Ich wünsche niemandem, dass er sieht, was
       ich gesehen habe.“
       
       Das Leben im Militärkrankenhaus findet Sergej ganz erträglich. Lediglich
       das Essen sei nicht besonders gut. „Wir sprechen viel miteinander. Aber
       egal, worüber wir sprechen: Alle Gespräche enden beim Krieg“, sinniert er.
       Schade sei nur, dass die Fluktuation im Krankenhaus sehr groß sei. Jeder
       wolle heimatnah behandelt werden. Auf seinem Zimmer ist Sergej inzwischen
       der Patient, der am längsten in Charkiw behandelt wird.
       
       Beim Abschied klingelt, wieder einmal, Viktoriia Miliutinas Handy. Der
       Klingelton ist unverwechselbar: Meeresrauschen und das Flattern von Möwen.
       Viktoriia ist auf der Insel Sachalin im fernen Osten Russlands geboren.
       
       1 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernhard Clasen
       
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