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       # taz.de -- Helfen in Kriegsgebieten: Bis an die Grenze
       
       > Sofie K. hat gerade ihr Abitur gemacht – und einen Plan. Sie möchte in
       > der zerstörten syrischen Stadt Kobani helfen. Doch so einfach geht das
       > nicht.
       
   IMG Bild: Nach dem Anschlag in Suruç: Angehörige und Freunde eines der Opfer tragen dessen Sarg zu Grabe.
       
       Berlin taz | Ein ganz gewöhnlicher Urlaub kam für die junge Abiturientin
       Sofie K. nicht infrage. Die Duisburgerin wollte die Sommermonate anders
       verbringen, sie wollte ins syrische Kobani, um beim Wiederaufbau der völlig
       zerstörten Stadt zu helfen. Oder beim Aufbau einer fortschrittlichen
       Gesellschaft, von der sie zusammen mit ihren Freunden der kommunistischen
       Jugendgruppe Young Struggle so sehr träumt. Doch deutsche
       Sicherheitsbehörden sahen in K. ein Sicherheitsrisiko, eine Militante, die
       bewaffnet gegen die Dschihadisten des „Islamischen Staats“ (IS) vorgehen
       wolle. Sie verweigerten ihr die Ausreise.
       
       Am Donnerstag den 18. Juni wollte K. die Reise am Düsseldorfer Flughafen
       beginnen. Auf ihrem Ticket stand „Istanbul“, nicht „Kobani“. Doch die
       Bundespolizisten wussten offenbar, wen sie vor sich haben. Sie führten sie
       von der Passkontrolle in einen separaten Raum. Nach eigener Aussage wurde
       K. dort stundenlang vernommen. Der Vorwurf: Sie wolle nach Kobani, um auf
       Seiten der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG zu kämpfen. In ihrem
       Gepäck fanden die Beamten drei Fahnen mit dem Konterfei von Ivana Hoffmann.
       
       [1][Die 19-jährige Hoffmann starb im März als erste Deutsche im bewaffneten
       Kampf der YPG gegen den IS]. K. kennt Hoffmann aus ihrer gemeinsamen Zeit
       bei Young Struggle. „Ivana hat mich sehr beeindruckt“, sagt sie. „Ihr Motto
       war, dass ihr Leben genauso viel wert ist wie das der Menschen in Palästina
       oder Kurdistan.“ Nun ist Hoffmann tot und für ihre Genossen eine
       „Freiheitskämpferin“.
       
       Dass Hoffmann in den Kampf zog, nennt K. eine „selbstlose, schöne
       Entscheidung“. Ihr nacheifern will sie nicht. „Ich will nicht zum Kämpfen
       nach Syrien, ich fange am 1. Oktober an zu studieren“, sagt sie.
       Unterstützen wolle sie die Kobani-Solidaritätsbrigaden, die ein
       Gesundheitszentrum errichten wollen. Es ist ein Projekt der ICOR, ein
       Verbund orthodox-marxistischer Parteien. Hauptkoordinator der ICOR ist
       Stefan Engel, zugleich Vorsitzender der Marxistisch-Leninistischen Partei
       Deutschlands (MLPD).
       
       ## Pass weg, Ausweis weg
       
       Offiziell gehört Young Struggle nicht zur MLPD, doch die Zusammenarbeit
       zwischen den Jugendlichen und der Kaderpartei ist eng. Zu vielen Aktionen
       ruft man gemeinsam auf, die Kobani-Aufbauhilfe bewirbt Young Struggle
       intensiv. Fünf Brigaden beteiligen sich zwischen Juni und September am
       Aufbau von vier Arztpraxen und eines OP-Saals. Wer teilnehmen will, muss
       sich bei der MLPD bewerben und Flugkosten und Verpflegung selbst tragen.
       Bislang wurden dafür 120.000 Euro, medizinisches Gerät und mehrere Tonnen
       Werkzeug gesammelt.
       
       „Dass die BRD humanitäre Hilfe verhindert, ist krass“, sagt K. und fügt
       hinzu: „Menschen, die Hilfe leisten wollen, werden wie Terroristen
       behandelt.“ Nach der Befragung, die K. als „psychische Folter“ bezeichnet,
       wurde gegen sie ein Ausreiseverbot verhängt, Reisepass und Personalausweis
       einbehalten.
       
       Doch der Entzug des Ausweises wirft Fragen auf. Dazu befugt sind deutsche
       Behörden erst seit dem 30. Juni – zwei Wochen nach der Maßnahme gegen K. An
       diesem Tag trat das überarbeitete Personalausweisgesetz in Kraft, das die
       Ausreise von Personen, die „insbesondere im Zusammenhang mit dem
       dschihadistischen Terrorismus stehen“, verhindern soll. Auf welcher
       Rechtsgrundlage K. der Personalausweis entzogen wurde, wollte die
       Bundespolizei der taz nicht im Detail beantworten.
       
       Das Bundesjustizministerium teilte auf Anfrage mit, „dass Ausreisen
       deutscher Staatsbürger in Kriegsgebiete zum Zweck des Kämpfens nicht
       grundsätzlich strafbar sind“. Maßgeblich für ein Ausreiseverbot seien
       terroristische Bestrebungen. Verhindert werden sollen, „staatsgefährdende
       Gewalttaten“ – ein entsprechendes Gesetz wurde im Juni verschärft.
       
       Konkret heißt das: Das Kämpfen aufseiten der von der Bundesrepublik
       unterstützten kurdischen Peschmerga sollte möglich sein. Denn der bekämpfte
       IS ist im Sinne der Vorschrift nicht als Staat zu begreifen. Anders verhält
       es sich bei der YPG, die eng mit der in Deutschland als terroristisch
       geltenden PKK verbandelt ist. Wer in ihren Reihen kämpfen will, macht sich
       nach deutschem Recht der „Unterstützung ausländischer terroristischer
       Vereinigungen“ schuldig.
       
       ## Hohe Anziehungskraft für Antiimperialisten
       
       Nach Angaben des Innenministeriums Nordrhein-Westfalen sind aus dem
       Bundesgebiet bislang etwa 40 Menschen ausgereist, um den Kampf der Kurden
       zu unterstützen, auch der Verfassungsschutz spricht von einer
       „zweistelligen Zahl“. Dagegen wurden bis Ende 2014 über 100
       Ausreiseuntersagungen ausgesprochen – und zwar an Personen, „die
       islamistische Gruppierungen als auch PKK-Guerilla unterstützen wollten“,
       wie das Bundesinnenministerium auf Anfrage mitteilte.
       
       Seit dem 6. Juli gibt es ein zweites deutsches Opfer aus den Reihen der
       YPG. Der 21-jährige Karlsruher Kevin Joachim starb bei Kämpfen in
       Nordsyrien. Auch ihn hatte seine marxistisch-leninistische Gesinnung nach
       Syrien geführt, wie er in einem Interview Ende April sagte.
       
       Die Anziehungskraft für deutsche Antiimperialisten und Menschen mit
       kurdischen Wurzeln wird trotz der vielen Opfer nicht kleiner. Mitte Juni
       wurde auf einer Pressekonferenz in Rojava, wie die autonomen kurdischen
       Gebiete in Nordsyrien bezeichnet werden, das Internationale
       Freiheitsbataillon vorgestellt – ein Kampfverband eigens für Kommunisten.
       Getragen wird das Bataillon von der militanten türkischen
       Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei MLKP. In der
       Gründungserklärung werden die Nationalitäten der Kämpfer aufgeführt,
       darunter Spanier, Griechen und Deutsche.
       
       Auch wenn K. sich nicht selbst an Kämpfen beteiligen will, haben sie und
       ihr Umfeld viel Sympathie für jene, die einen Schritt weiter gehen. Nach
       dem Anschlag auf das Camp der sozialistischen Jugend in Suruç finden sich
       auf der Facebookseite von Young Struggle unzählige Bilder von bewaffneten
       türkischen Kommunisten, die nach Vergeltung für die „Märtyrer“ rufen.
       Selbst schreibt die Gruppe: „Ihr Kampf ist auch unser Kampf. Der brutale
       Angriff macht uns nur so entschlossener, den Kampf in Rojava und in der
       Türkei zu unterstützen.“ Die Trennung zwischen Wiederaufbau und
       militärischem Engagement verschwimmt.
       
       Es dürften solche Aktionen sein, die das Interesse der Sicherheitsbehörden
       auf Aktivistinnen wie K. lenken. Diese muss schon länger im Fokus gestanden
       haben. Noch bevor sie am Flughafen ankam, versuchten Beamte sie in ihrer
       Wohnung anzutreffen – vermutlich, um sie vor einer Ausreise zu warnen. Auch
       ihr Vater wurde angerufen, damit er der Tochter die Pläne ausrede. Doch der
       begrüßt ihr Engagement.
       
       Für zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich am Wiederaufbau von Kobani
       beteiligen wollen, ist die Lage im Moment schwierig. So erzählt Matthias
       Hofmann von Eine Schule für Kobani von massiven Problemen, Hilfsgüter über
       die Türkei nach Syrien zu schicken. Das Auswärtige Amt teilt mit, zwar
       grundsätzlich humanitäres Engagement zu begrüßen, sich aber an der Linie
       der türkischen Regierung zu orientieren. Demnach werden „humanitäre
       Transporte nur für solche Projekte“ gestattet, „von denen keine erhebliche
       Anziehungskraft für weitere Rückkehrer ausgeht“. Zu gefährlich sei die Lage
       in der Stadt, die erst im Juni wieder vom IS angegriffen wurde. Nach dieser
       Logik dürfen weder Schul- noch Medizinprojekte auf die Unterstützung der
       deutschen Behörden hoffen.
       
       ## Suruç? Jetzt erst recht
       
       Die in Suruç versammelten Jugendlichen der SGDF wollten ebenfalls
       Hilfsgüter nach Kobani liefern und verschiedene Wiederaufbauprojekte
       unterstützen, auch den Bau der Krankenstation. [2][Der Anschlag mit 32
       Toten] hat K. erschüttert. Die Gruppe sei die „Schwesterorganisation“ von
       Young Struggle, sagt sie. Viele der Mitglieder kennen sich von
       gegenseitigen Besuchen. Doch abschrecken kann sie auch dieser Vorfall
       nicht. „Je mehr schreckliche Nachrichten kommen, desto mehr denke ich,
       jetzt erst recht“, sagt sie.
       
       Einen Tag nach dem Anschlag entschied das Verwaltungsgericht Köln, dass das
       Ausreiseverbot gegen K. aufgehoben wird. Die Entscheidung wurde nicht
       begründet. Eine mögliche Deutung wäre, dass die Indizien für ihre Teilnahme
       am bewaffneten Kampf nicht ausgereicht haben, um das Verbot
       aufrechtzuerhalten. K.s Anwalt hatte einstweilige Verfügung gegen das
       Ausreiseverbot beantragt. Sobald K. ihre Ausweise wiederhat, will sie
       fahren. Am 3. August bricht die dritte Brigade der ICOR auf. K. ist fest
       entschlossen dabeizusein.
       
       „Ja, es ist gefährlich“, sagt sie, „aber wenn man die Menschlichkeit in
       sich hat und Verantwortung verspürt, ist es trotzdem das Richtige.“
       
       23 Jul 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Im-Kampf-gegen-den-IS-getoetet/!5017378/
   DIR [2] /Anschlaege-in-Suru%C3%A7-und-Kobani/!5214725/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Erik Peter
       
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