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       # taz.de -- Theater der Migranten in Berlin: Für spukhafte Momente ist gesorgt
       
       > Das Theater der Migranten lädt in Berlin-Neukölln ein zu einer Floßfahrt.
       > Mit an Bord ist Joseph Conrads Roman „Herz der Finsternis“.
       
   IMG Bild: Nachts an den Ufern des Kanals, unterwegs mit dem Theater der Migranten
       
       Am Ende wartet das Paradies. Das Paradies liegt irgendwo im Süden von
       Berlin-Neukölln. Das Paradies ist ein real existierender Schandfleck in der
       Mitte Deutschlands, eine Industriebrache mit Zwielicht, einem nachts hinter
       Gittern verschlossenen Wachhund, mit Schienen, die irgendwoher kommen und
       irgendwohin führen, mit leeren Förderbändern und tickenden Alarmanlagen.
       Das Paradies ist ein Funktionsbau mit Vogelschutzaufklebern und einem
       Garten am Rande des Neuköllner Schifffahrtskanals, irgendwo im Nichts.
       
       Das „Theater der Migranten“ hat eine Floßfahrt ans Ende der Welt
       organisiert, konzipiert als „Intervention im öffentlichen Raum“. Orientiert
       hat man sich für dieses Stück Performancetheater am Romanklassiker „Herz
       der Finsternis“ von Joseph Conrad, der dem Stück auch den Namen gegeben
       hat.
       
       Eine bestimmte Konfusion ist Prinzip und Absicht der Gruppe unter der
       Leitung von Olek Witt, und die beginnt schon am Startort, einer alten
       Fabrikhalle am Flutgraben, also zwischen dem Club der Visionäre, dem White
       Trash Fast Food und dem Badeschiff. Also irgendwo in dieser
       postindustriellen Trashwelt, die von Touris, Hipstern, Druffis und
       Badelatschen tragenden Kunstmenschen bevölkert wird.
       
       Da erhält man dann eine Art Ausweis und wird durch unmögliche Fragestunden
       geführt: „Gab es in Ihrer Familie Formen von Wahnsinn?“ Die deutsche
       respektive europäische Bürokratie lässt grüßen; das Theater der Migranten,
       nahezu ausnahmslos eben von Migranten besetzt, spielt in Folge Stationen
       der Herkunft durch, Herkunft meint hier: Stationen einer langen Irrfahrt,
       einer Tortur, die „Reise“ zu nennen mehr als euphemistisch wäre. Es geht
       also um die Stationen der Flucht.
       
       ## Zu viele Szenen lose in der Luft
       
       Dabei bleibt das Ensemble, trotz aktiver Einbeziehung des Publikums, immer
       freundlich. Richtig böse wird es nie; richtig unheimlich, trotz
       fortschreitender Dunkelheit und Einsatz von Videotechnik und Natur, auch
       erst zum Schluss, kurz vor besagtem Paradies.
       
       Es sei an dieser Stelle auch nicht zu viel verraten, denn die Aufführung
       lebt stark von den Momenten der Publikumsüberraschung. Nur so viel: Man
       wird ein Faltboot aus Kunststoff durch die Landschaft tragen; man wird eine
       Menge erzählt bekommen, vom Elend der Welt und insbesondere vom Elend der
       Flucht; und man wird eine Fahrt auf dem Kanal absolvieren – vorbei an den
       nächtlichen Häuserfassaden, den romantisch ins Wasser glotzenden Pärchen
       und melancholischen Trinkern, und unter den tief hängenden Brücken
       Neuköllns hindurch.
       
       Am besten funktioniert das Stück, wenn Umwelt und Text miteinander
       korrespondieren. Wenn die von Genifer M. Habbasch rezitierten Stellen aus
       Conrads Kolonialismusroman fast im Einklang mit der nächtlichen Situation
       auf dem Floß zu sein scheinen; wenn die Erzählung von den Fluchtstationen,
       die aus dem Off kommt, etwa mit realem Stacheldraht korrespondiert, der
       sich am Ufer vor Fabrikgeländen oder dem Gelände der Griessmühle befindet.
       
       Leider, und hier wären wir bei der Kritik, haftet dem Stück etwas
       Disparates an. Es hängen zu viele Szenen lose in der Luft; Conrads Roman,
       der aus weißer Perspektive Kolonialismus beschreibt, ist zeitlich doch an
       anderen Orten und Räumen unterwegs, als es einerseits die Flüchtlinge auf
       ihrem Weg ins vermeintliche Paradies waren (und sind und sein werden) und
       andererseits eben wir, d. h. Publikum wie Ensemble gleichermaßen, jetzt
       ganz konkret sind.
       
       ## Bürokratie-Irrsinn
       
       Das immer noch charmant-kaputte Neukölln mit dem eher schmutzigen Kanal
       kann trotz nächtlich-romantischer Stimmung die Todesängste und
       Todeserfahrungen im Mittelmeer, und das ist nur ein Beispiel, natürlich
       nicht adäquat darstellen.
       
       Das „Elfenbein“ interessiert heutzutage auch weniger als zu Conrads Zeiten;
       es sind heute ganz andere Bezüge zu Globalisierung, Turbokapitalismus,
       Rechtspopulismus, Rohstoffen, Demokratieverständnis, Religionskriegen etc.
       etc., die den Hintergrund für all diese tragischen Geschehnisse bilden.
       
       Der hiesige Bürokratie-Irrsinn, der die Migranten an den Küsten Südeuropas
       erfasst, ist in dem Zeichentrickfilm „Asterix erobert Rom“ vielleicht am
       besten auf den Punkt gebracht worden; die Wege der Migration wurden u. a.
       in Marie NDiayes großem Roman „Drei starke Frauen“ oder in Michael
       Winterbottoms Film „In this World“ extremer gezeigt.
       
       Aber gut. Für spukhafte Momente ist gesorgt. Und hier steht die
       Selbstermächtigung der Migranten im Vordergrund: Sie haben sich ein Forum
       und eine Form geschaffen, um ihre Geschichte zu erzählen, darzustellen, zu
       tanzen oder auch wegzulachen. Man kann sich das ansehen, es ein kleines
       Stück weit miterleben und nachvollziehen. Man kann auch einfach nur
       mitfahren.
       
       24 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rene Hamann
       
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