URI: 
       # taz.de -- Bürgerrechtler über Strompreis-Proteste: „Das ist eine neue Kampfform“
       
       > Die Armenier protestieren gegen die Erhöhung der Strompreise. Der
       > Bürgerrechtler Stepan Danielyan sieht darin „eine neue soziale Bewegung“.
       
   IMG Bild: Juni 2015: In Jerewan protestieren aufgebrachte Bürger gegen die Pläne der Regierung, die Strompreise zu erhöhen
       
       taz: Herr Danielyan, wie schätzen Sie Protestbewegungen in Armenien gegen
       die Strompreiserhöhung ein? 
       
       Stepan Danielyan: Das ist eine neue Kampfform. Hier kommt das neue
       gesellschaftliche Bewusstsein zum Vorschein, und zwar das Bewusstsein, dass
       das Land seinen Bürgern gehört. Bis jetzt trugen öffentliche Proteste eher
       parteipolitischen Charakter. Die Menschen forderten den Rücktritt des
       Präsidenten und der Regierung, davon erhofften sie sich, dass die Probleme
       gelöst würden. Doch diesmal erleben wir etwas völlig anderes. Im Zentrum
       steht die Frage nach der Verantwortung. Die Bürger sind die Herren, und die
       Regierung muss dem Volk dienen, egal wer gerade an der Macht ist. Das ist
       die Grundideologie einer neuen sozialen Bewegung, die erst vor ein paar
       Jahren durch die Proteste von Umweltschutzaktivisten entstanden ist.
       
       Hat die Bewegung Erfolge vorzuweisen? 
       
       2011 hat eine Gruppe von Aktivisten den Wasserfall Trtschkan gerettet. Die
       Regierung wollte ein Wasserkraftwerk auf dem Gebiet des Wasserfalls bauen.
       Das rief die Maschtoz-Park-Bewegung ins Leben. Nach monatelangen
       Sitzstreiks und brutalen Zusammenstößen zwischen den Aktivisten und der
       Polizei wurden die Baumaßnahmen an den geplanten Ladengeschäften auf dem
       Territorium des Maschtoz-Parks im Zentrum von Jerewan verhindert. 2013 hat
       der Bürgermeister von Jerewan, Taron Margarjan, infolge massiver
       Straßenproteste eine 50-prozentige Preiserhöhung für öffentliche
       Verkehrsmittel zurückgenommen. Alle Proteste verliefen unter dem Motto
       „Unsere Stadt und unser Land gehören uns“.
       
       Warum sind die Oppositionspolitiker diesmal nicht stärker in Erscheinung
       getreten? 
       
       Die Bürger misstrauen der Opposition. Als oppositionelle Parteichefs jetzt
       versucht haben, an die Spitze der Demonstrationen zu gelangen, wurden sie
       zurückgewiesen oder aufgefordert, als normale Bürger daran teilzunehmen.
       Die Vertreter der regierenden Republikanischen Partei, die zu den Protesten
       kamen, wurden ausgebuht. Dieses tiefe Misstrauen richtet sich gegen das
       ganze politische System.
       
       Was sind die Gründe dafür? 
       
       Politische Parteien funktionieren wie autoritäre Strukturen. Der
       Parteivorsitzende ist der König, die Parteimitglieder – die Untergebenen –
       müssen zu Diensten sein. Die Opposition nimmt an den gefälschten Wahlen
       teil, verhandelt mit der Regierung, bekommt Sitze im Parlament. Die
       Parteiführer versuchen, bürgerliche Bewegungen zu privatisieren, damit sie
       weitere – politische wie persönliche – Privilegien von der Regierung
       absahnen können. Viele oppositionelle Abgeordnete sind, genauso wie ihre
       Kollegen von der Koalition, Unternehmer, haben Familienbetriebe, die keine
       Steuern bezahlen.
       
       Diese Bewegung hatte keine Anführer. Sehen Sie das als Vor- oder Nachteil
       an? 
       
       Sowohl als auch. Seit der Unabhängigkeit Armeniens 1991 wurden
       Protestbewegungen von Parteifunktionären angeführt, die versucht haben, mit
       der Regierung zu verhandeln. Seitdem genießt der Begriff „Leader“ einen
       schlechten Ruf. Dieser Umstand hat Nachteile. Die Jugendlichen waren nicht
       imstande, sich auf konkrete Schritte zu einigen. Die Entscheidungen, die
       von Einzelnen getroffen wurden, waren für andere Gruppen nicht akzeptabel.
       Der Entscheidungsmechanismus hat versagt. Was die Regierung betrifft, so
       konnte sie keine einzelnen Personen verantwortlich machen, einschüchtern
       oder bestechen. Gleichzeitig ermöglichte ihr das aber auch, die
       Demonstration schnell zu zerstreuen.
       
       Die Strompreise sollen zum 1. August um 16 Prozent erhöht werden.
       Ursprünglich ging es um 40 Prozent. Wurde die Entscheidung von dem
       russischen Stromlieferanten InterRAO getroffen? 
       
       Hier geht es um Korruption. Daher spielt es keine Rolle, dass der Strom von
       einem russischen Konzern geliefert wird. Derselbe russische Konzern –
       InterRAO – klagt übrigens gegen die armenische Regierung. Nach einer
       internen Vereinbarung mit der Regierung brauchten einige armenische
       Konzerne und Kombinate jahrelang für Strom nichts zu bezahlen. Darunter der
       Baukonzern Glendale Hills, der der Präsidentenfamilie gehört, und das als
       korrupt verschriene Kautschukkombinat Nairit. Die armenische Presse
       berichtet von rund 9,5 Millionen Euro Stromschulden bei InterRAO.
       
       Wie ist es dazu gekommen? 
       
       Dadurch, dass es kein effektives Management und keine Kontrolle durch
       armenische Behörden gibt. Und wer soll das alles bezahlen? Die Bürger!
       Deswegen ist auch der Strompreis innerhalb von vier Jahren viermal
       gestiegen. Die Regierung hat versprochen, die 16-Prozent-Erhöhung für
       Bedürftige übernehmen. Doch das Geld dafür wird sie von unseren Steuern
       nehmen. Den russischen Konzernen wiederum ist es egal, wer zahlt.
       Hauptsache, das Geld kommt. Da die Korruption auch in Russland
       allgegenwärtig ist, fühlen sich russische Konzerne in Armenien wie Fische
       im Wasser.
       
       Russische Medien haben versucht, die Proteste in Armenien als „ukrainischen
       Maidan“ zu diskreditieren. Gibt es Parallelen? 
       
       In der Ukraine ging es um die geopolitische Orientierung, in Armenien – um
       Korruption. Das heißt nicht, dass die Partnerschaft mit Russland alle in
       Armenien zufriedenstellt. Doch in diesem Fall ging es um die Tatsache, dass
       die armenische Regierung ihre eigene Bevölkerung ausplündert. Wir müssen
       erst unser Land von der Korruption befreien. Deswegen haben die Aktivisten
       die EU-Flaggen bei den Protesten entfernt. Das wären eben falsche Symbole.
       Anders als in Georgien und in der Ukraine ist für Armenier nicht die
       wichtigste Frage, ob sie sich für Russland oder den Westen entscheiden
       müssen.
       
       Aber mit dem Beitritt im Januar 2015 zur Eurasischen Wirtschaftsunion hat
       sich Armenien doch bereits entschieden … 
       
       Als der armenische Präsident Sersch Sargsjan völlig überraschend im
       September 2014 seinen Entschluss verkündete, dass das Land der von Russland
       dominierten Union beitreten wird, handelte es sich allein um seine
       persönliche Entscheidung, nicht die der Bevölkerung. Die europäische
       Integration ist immer noch der Weg, den die meisten Armenier gehen wollen.
       
       31 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tigran Petrosyan
       
       ## TAGS
       
   DIR Ukraine
   DIR Maidan
   DIR Armenien
   DIR Strompreis
   DIR Armenien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kommentar „Strom-Maidan“: Elektrisiertes Armenien
       
       Die Regierung reagiert mit Gewalt auf Menschen, die gegen finanzielle
       Einschnitte demonstrieren. Das ist nicht ohne Risiko.