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       # taz.de -- Konflikt zwischen Ukraine und Russland: An eurem guten Willen ist alles faul
       
       > Warum ich mich mit prorussischen Autoren auf kein Podium setze: Ich lasse
       > mich nicht zu einem Showeffekt degradieren.
       
   IMG Bild: Panzer der Volksrepublik Donezk auf dem Rückzug von der Frontlinie.
       
       Ein Literaturfestival in Deutschland. Auf meiner Tagesordnung steht eine
       Diskussion mit einem russischen Schriftsteller. Einem Befürworter der
       Abspaltung der Ostukraine, der nach seinen Donbass-Reisen Pamphlete über
       die Heldentaten prorussischer Kämpfer verfasst und der die Kiewer Junta
       verdammt.
       
       Ich sage ab und werde den Gedanken nicht los, dass hier etwas faul ist. Wie
       kann das sein, dass sie nicht verstehen, wie das ankommt, was das ausmacht?
       Wieso kapieren sie nicht, dass hier nicht mal eine leise Spur irgendeiner
       Verständigung möglich ist? Oder geht es ihnen gar nicht um Verständigung?
       Worum denn dann? Um eine Show? Einen Skandal? Publikumserfolg?
       
       Keine Frage, Diskurse unter Gleichgesinnten fallen nicht so spannend aus.
       Kaum blanke Nerven, keine hysterischen Schreie, kein Abgleiten ins Private.
       Also ist alles in bester Ordnung, aus der Sicht eines unvoreingenommenen
       Westintellektuellen hat jeder ein Recht auf eigene Wahrheit, unabhängig
       davon, auf wessen Territorium gekämpft wird und wer diese Kämpfe initiiert
       hat …
       
       Mich aber interessiert diese Art Spannung nicht. Genauso wenig das
       Abdriften ins Private. Insbesondere dort, wo es um Krieg geht. Sprich, um
       Menschen — lebendige und tote Menschen. Angesichts deren empfinde ich keine
       Lust darauf, ein Teil der Show für westliche Intellektuelle zu sein.
       Solche, die sich darum bemühen, einen korrekten und objektiven Eindruck zu
       erwecken, die nach eigenem Empfinden gerechterweise „beiden Konfliktseiten“
       ein Mitspracherecht einräumen, die aufrichtig davon ausgehen, dass diese
       beiden „Seiten“ zu einem Dialog bereit sein müssen.
       
       ## Eiserne Mauer der Geopolitik
       
       Dass dabei ein Okkupant einem Okkupierten gegenübersteht, interessiert kaum
       jemand. Das sind lästige Details, Nuancen. Alles, was zählt – ist positive
       Einstellung. Auch im Umgang mit dem Okkupanten. Und das Einfachste ist, der
       Einladung zu folgen und darauf zu hoffen, dass die „andere Seite“ genauso
       auf das Positive eingestellt ist. Was bleibt, ist, sich während eines
       konstruktiven Gesprächs die Argumente der „anderen Seite“ anzuhören, die
       auf historischer Bedingtheit und geopolitischer Logik, auf Konzeptionen und
       Strategien, auf einem Gefühl der Revanche und der Nachsichtigkeit basieren.
       
       Und all deine Worte, die um deine Allernächsten kreisen, um die Räume, wo
       du groß geworden bist, um die Luft, die du dein ganzes Leben einatmest –
       all das wird zerschmettert an der eiskalten eisernen Mauer der Geopolitik,
       an dieser „Wahrheit der anderen Seite“.
       
       Denn es ist doch alles korrekt. Aus der Sicht eines unvoreingenommenen
       Westintellektuellen besitzt jeder seine eigene Wahrheit, unabhängig davon,
       auf wessen Territorium gekämpft wird und wer diese Kampfhandlungen begonnen
       hat, und unabhängig davon, ob die „andere Seite“ die eigene Teilnahme daran
       im Prinzip eingesteht. Und diese gesteht sie selbstverständlich nicht ein.
       
       Ganz im Gegenteil. Sie beteuert, dass sie mit diesem Krieg überhaupt nichts
       zu tun hat, und ebendas erlaubt ihr, Beschuldigungen vorzutragen,
       Ratschläge zu erteilen und gönnerhaft die Unglücklichen zu bemitleiden, die
       immer noch nicht einsehen wollen, dass sie dazu verdammt sind, auch
       weiterhin in frostigen Umarmungen der Geopolitik zu verharren. Das ist in
       etwa meine Wahrnehmung solcher Versuche, um jeden Preis konstruktiv zu
       bleiben.
       
       ## Alles beim Alten
       
       „Ihr Intellektuellen seid dazu verpflichtet, ein Beispiel an gesundem
       Menschenverstand in diesem Krieg zu liefern“, sagt mir eine Berliner
       Kollegin. „Ihr müsst guten Willen und Kompromissbereitschaft demonstrieren.
       Ihr müsst mit Opponenten diskutieren!“ – „Warte mal“, antworte ich, „aber
       meine Opponenten nennen mich Faschist“. – „Das ist unwichtig, ihr seid dazu
       verpflichtet“. – „Warte“, sage ich, „die Sache ist, dass ich kein Faschist
       bin“. – „Das spielt keine Rolle“. Sie wird ungeduldig. „Du verstehst doch,
       dass eure Diskussionen, die ihr bei uns in Deutschland führt, eine Art
       Masturbation sind. Es kommen nur Ukraine-Liebhaber dazu. Wen interessiert
       das schon?“
       
       Das stimmt, denke ich, es ist wenig Spannung dabei – keine Rangeleien,
       keine Flüche, keine Pyrotechnik. Und Hauptsache, keiner sagt zum anderen:
       Faschist. Die Bekannte spricht gut Russisch, ist mit vielen russischen
       Autoren per du, unter anderem mit denjenigen, die zu einem Angriff auf
       Charkiw und Kiew aufrufen und dafür plädieren, die Grenzen des eigenen
       Landes auf Kosten der Territorien der „anderen Seite“ auszudehnen. Sie
       interessiert sich für Militärkonflikte, war bereits im Kaukasus, will auch
       nach Donbass fahren. Keine Politik – die professionelle Neugier. Ein
       weiterer Militärkonflikt auf der Europakarte, es gab unzählige davon, es
       werden unzählige folgen.
       
       Nichts Besonderes, alles beim Alten. Alles gut. Wenn da nicht diejenigen
       vor Ort wären, die sich weiterhin weigern, sich als eine der beiden
       Parteien in dem sogenannten Konflikt bezeichnen zu lassen. Die über diesen
       Krieg nicht ruhig sprechen können. Die dazu aufrufen, die Aggression, die
       Annexion und die Okkupation zu verurteilen. Die an das Gefühl der
       Gerechtigkeit appellieren, überhaupt an Gefühle erinnern. Die sich weigern,
       sich mit den Tätern an einen Tisch zu setzen und zu verhandeln.
       
       Ja, diese Menschen machen Probleme. Es ist schwer, sie zu verstehen, ihre
       Wahrheit als eigene zu akzeptieren. Manchmal denke ich, dass der Mensch nur
       dann beginnt, an den Tod zu glauben, wenn er selbst im Sterben liegt. Erst
       da glaubt er aufrichtig, fest und unerschütterlich daran. Allerdings nicht
       mehr lange.
       
       Aus dem Ukrainischen von Irina Serdyuk
       
       31 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Serhij Zhadan
       
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