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       # taz.de -- Kolumne Die eine Frage: Das kleine Glück des Protests
       
       > Ist das neue Bürgerengagement nur ein
       > unterhaltungsorientierter„Verantwortungskonsum“ auf Stadtfesten,
       > Hannelore Schlaffer?
       
   IMG Bild: Erst trillern, dann ab nach Hause auf die Couch?
       
       Als engagierte Bürger auf den Straßen Stuttgarts den Bau des Verkehrs- und
       Immobilienprojekts Stuttgart 21 verhindern wollten, hoffte ich einen Moment
       lang, es formiere sich ein neues politisches Bürgertum, das eine
       grundlegende sozialökologische Transformation antreiben könnte. Heute ist
       ein Rest wuterstarrt weiter am Bahnhof zugange, die meisten sind aber
       längst wieder zu Hause. Und nun schreibt Hannelore Schlaffer: „Das neueste
       Glück besteht darin, sogar Verantwortlichkeit zu konsumieren.“
       
       Ist das, was ich für neues Bürgerengagement halten wollte, nur eine
       raffinierte Abart von Konsum?
       
       Hannelore Schlaffer ist eine Intellektuelle jener Post-68er-Generation, die
       für Jahrzehnte die Diskurse des emanzipatorischen Elite-Gegen-Mainstreams
       mitbestimmte. Zusammen mit dem Germanisten Heinz Schlaffer das Stuttgarter
       Pendant zu de Beauvoir & Sartre. Mit einer Abenteuerprise Bonny & Clyde.
       Nun hat sie einen fulminanten Essay über den „neuen Mitsprachebürger“ im
       aktuellen Kursbuch abgeliefert (das ist eine Intellektuellenzeitschrift.)
       Programmatischer Titel: „Maximal unverbindlich.“
       
       Etwas zugespitzt: Nach 1989 hat der Bürger den theoretisierenden
       Linksintellektuellen als Instanz abgesetzt, weil der durch den
       Zusammenbruch des Sozialismus desavouiert war und sich als blind für das
       echte Leben herausstellte. Zeitungen – Publikationsort des Intellektuellen
       – braucht er daher auch nicht mehr.
       
       ## Seine eigene Instanz
       
       Er ist jetzt als Mitsprachebürger seine eigene Instanz, denkt sich sein
       Zeug selbst und schreibt es ins Internet. Theorien, Parteien, alle
       zusammenhängenden Kontexte hat er abgehakt. Zeitungsartikel liest er
       einzeln, über Facebook oder Twitter. Er sucht sich einen Anlass, ein
       konkretes Problem, geht in die Innenstadt, um sich für Momente in einer
       protestierenden Menge als politischer Mensch zu spüren. Und dann geht er
       wieder nach Hause. Das nennt Schlaffer Verantwortungskonsum.
       
       Ich rief sie an.
       
       „Ich könnte sagen, es ist noch viel schlimmer: Der Kapitalismus hat
       begriffen, dass man die Leute gut unterhalten muss“, sagte Schlaffer. „Wenn
       sie von sich den Eindruck haben, sie seien politisch verantwortlich, so ist
       auch das letztlich gut fürs Geschäft.“
       
       Ich erzählte ihr, wie solidarisch protestierende Mitbürger im Berliner
       Stadtteil Kreuzberg soeben einen Kiez-Gemüseladen namens Bizim Bakkal vor
       der Kündigung gerettet hatten. Grundsätzlich zu begrüßen. Solche Bewegungen
       wollten „schnell und praktisch“ einen Missstand anprangern oder beheben.
       
       Aber?
       
       Man gehe heute in die Stadt, um das „Glück des Alltags“ zu spüren, also zu
       konsumieren. Obgleich jeder von der individuellen Entfaltung spricht,
       suchten die meisten doch das Glück in der Menge. Etwa beim Public Viewing
       von Fußballspielen, bei Opernaufführungen, bei Stadtfesten. Auch der
       anlassbezogene Protest verkomme so zu einem Stadtfest.
       
       ## Events für Mitmachbürger
       
       Der Verantwortungskonsument sei immerhin eine erfreulichere Erscheinung als
       sein Vorgänger, der Stammtischbruder. Er rede nicht nur, sondern sei
       „praktisch“ orientiert, schnell dabei, aber eben auch schnell wieder weg.
       Letztlich gehe es auch ihm um „Abfuhr“.
       
       Zu Ende gedacht: Der raffinierte Machtkomplex organisiert für die
       Bedürfnisse des Mitmachbürgers kleine Events, und wenn der noch in Jahren
       davon schwärmt, wie man damals großartig den Gemüseladen gerettet hat, ist
       längst der halbe Kiez entmietet und vertrieben. Von der sozialökologischen
       Transformation erst gar nicht zu reden.
       
       Liebe Frau Schlaffer: Ist das nicht zu deprimierend für die immerhin
       punktuell engagierten Bürger, am Ende doch wieder nur systemverstärkend
       unterwegs zu sein? „Ja, was machen wir denn da jetzt?“, sagt Hannelore
       Schlaffer. Dann legt sie auf.
       
       1 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Unfried
       
       ## TAGS
       
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