URI: 
       # taz.de -- Talentscouts im Jugendsport: Wenn Kinder Ware werden
       
       > Gleich elf Talente aus dem Nachwuchs verliert der FC St. Pauli diesen
       > Sommer an andere Vereine. Schon 13-Jährige kommen nicht mehr ohne Berater
       > aus.
       
   IMG Bild: Spielwiese für Talentscouts: Jungs auf dem Fußballplatz
       
       Hamburg taz | Es klingt nach Ausverkauf. Gleich elf Toptalente verlassen in
       diesem Sommer das Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) des FC St. Pauli –
       abgeworben von anderen Vereinen. Acht Jugendspieler im Alter zwischen 12
       und 18 wechseln zum HSV, zwei wandern zum Zweitliga-Krösus RB Leipzig ab,
       einer wechselt nach Dortmund.
       
       Damit verliert der Club, dessen Nachwuchszentrum von den Fußballverbänden
       DFL und DFB gerade erneut das Höchstprädikat von drei Sternen erhielt, mit
       die besten Spieler aus sieben Jahrgängen. „Es hat schon immer Wechsel von
       Jugendspielern gegeben, aber noch nie in diesem Ausmaß“, sagt NLZ-Leiter
       Alexander „Alex“ Eick: „Die Abwerbemethoden sind deutlich aggressiver
       geworden.“
       
       Landauf, landab sind sie unterwegs: Die Späher der Bundesligisten, immer
       auf der Suche nach den Mario Götzes und Miroslav Kloses von morgen. Kein
       Bolzplatz, kein Kunstrasenfeld ist vor ihnen sicher. Und jeder Spieler, der
       es in eine Länderauswahl oder gar in eine der Jugendnationalmannschaften
       der verschiedenen Altersgruppen geschafft hat, steht ohnehin auf den
       Zetteln der Scouts.
       
       ## Junge Talente sind billig
       
       Der Kampf um die Talente wird immer härter, immer mehr spielen fragwürdige
       Versprechen und vor allem viel Geld eine Rolle. Denn die Investition in die
       Jugend, sie könnte sich später auszahlen. „Die Abwägung der Vereine lautet:
       Hol ich mir einen gestandenen Profi oder für dasselbe Geld ganz viele
       Jugendspieler, die einfach viel billiger sind“, sagt Alex Eick und ergänzt:
       „Die wirtschaftlichen Interessen der Vereine stehen dabei oft über dem
       Kindeswohl.“
       
       Längst sind Teenie-Fußballer zur Ware geworden. Wie etwa Sidnei Djalo, der
       im vergangenen Winter von St. Pauli nach Wolfsburg wechselte, wo er nun im
       Nachwuchsinternat des Vizemeisters lebt. Oder der 15jährige Nicolas Kühn,
       der dieser Tage von Hannover 96 zu RB Leipzig wechselt. Dass er von Leipzig
       10.000 Euro im Monat erhalte, dementierten zwar alle Beteiligten, doch die
       Zahl dürfte der Wahrheit recht nahe kommen.
       
       Denn längst zahlen einige Topvereine ihrem pubertierenden Topnachwuchs
       Gehälter, die denen eines gehobenen Angestellten entsprechen. „Alle
       Jugendspieler sagen, Geld habe bei ihrem Wechsel keine Rolle gespielt“,
       sagt Eick. Dann sucht er Blickkontakt: „Aber würden Sie das glauben?“
       
       Nicht immer werden die Spieler und ihre Eltern mit Geld geködert. Auch ein
       privater Nachhilfelehrer oder ein Gebrauchtwagen können den einen oder
       anderen Jugendlichen bewegen, „eine neue Herausforderung“ zu suchen.
       
       Und selbst wenn ein Nachwuchstalent vom Verein 1.000, 5.000 oder 10.000
       Euro monatlich zugesteckt bekommt – entwickelt er sich tatsächlich zum
       Bundesligaprofi oder gar Nationalspieler und werden dann bei einem
       Vereinswechsel Ablöse-Millionen fällig, hat sich die überschaubare
       Investition allemal gelohnt.
       
       So denken auch die Berater, die sich wie Heuschrecken auf jedes
       überdurchschnittliche Fußballtalent stürzen. „Sie spielen schon im
       Jugendbereich eine große Rolle und sie warten nicht, bis die Spieler 15
       sind ,sondern sprechen schon 12- bis 13-jährige Jungen an, um anderen
       Beratern zuvorzukommen“, erzählt Eick. „Die Tätigkeit der Berater führt
       dazu, dass mehr Wechsel unter den Vereinen stattfinden und die
       Hemmschwelle, andere Clubs anzusprechen, sinkt.“
       
       Meist geht es um Kohle, manchmal auch nur ums Prestige: Gelang es dem HSV
       jahrelang nicht, Hamburger Talente an sich zu binden, grast er nun den
       Jugendbereich des Stadtrivalen ab. „Wir sollen systematisch geschwächt
       werden“, glaubt einer aus der Vereinsspitze des Kiezclubs. Kein Hamburger
       Talent soll mehr bei St. Pauli groß werden, heißt es beim HSV hinter den
       Kulissen.
       
       Offiziell klingt es ganz anders: „Wir freuen uns, dass wir die Spieler von
       einem klaren Entwicklungsplan überzeugen konnten“, kommentiert
       HSV-Nachwuchsleiter Dieter Gudel die Anwerbung der acht Talente vom
       Fußballnachbarn.
       
       „Für uns ist es auch eine Auszeichnung unserer Arbeit, wenn unsere Talente
       abgeworben werden“, sagt Alex Eick nicht ohne Bitterkeit. Denn während die
       Spieler und ihre neuen Vereine oft von dem Wechsel profitieren, ist der
       Abgang für den FC St. Pauli ein herber Verlust. Zwar müssen die Neuvereine
       der Jugendspieler dem Ausbildungsclub eine in der Regel vierstellige
       Entschädigung zahlen, doch diese Summen decken die aufgelaufenen
       Ausbildungskosten bei Weitem nicht. „Das ist nicht mehr als ein Tropfen auf
       den heißen Stein“, sagt Eick.
       
       So droht das NLZ am Brummerskamp in Hamburg-Schnelsen trotz anerkannt guter
       Arbeit auszubluten. 2012 zeichneten die Fußballverbände DFL und DFB das NLZ
       erstmals mit drei Sternen aus – mehr geht nicht. „Wir haben“, sagt
       Sportchef Thomas Meggle stolz, „in unserem Verein Strukturen geschaffen,
       die uns zu einer ernstzunehmenden Größe im Nachwuchsbereich in Deutschland
       machen.“
       
       ## Fehlende Solidarität
       
       Doch gegen den Ausverkauf hilft das nicht. Denn mit Geldscheinen wollen die
       Verantwortlichen nicht wedeln – die Spieler der A- und der B-Jugend
       bekommen die Standardverträge des Verbandes vorgelegt und damit ein
       „Taschengeld“ von kaum über 250 Euro. „Wir müssen anders punkten“, sagt
       Remigius „Remi“ Elert, der heute das Regionalligateam des FC St. Pauli
       trainiert, nachdem er das NLZ mit aufgebaut hat.
       
       Der FC St. Pauli setzt auf eine kontinuierliche Entwicklung der Spieler,
       bei der der Verein den Kontakt mit ihren Eltern sucht und die Jugendlichen
       sehr individuell fördert. Ein weiteres Plus ist die Durchlässigkeit
       zwischen Nachwuchs und Profiteam.
       
       Allein im vergangenen Jahr schnupperten mit Bentley Baxter Bahn, Okan Kurt,
       Rechtsverteidiger Andrej Startsev, Maurice Litka, Tjorben Uphoff und
       Kyoung-Rok Choi sechs vereinseigene Nachwuchsspieler erstmals Profiluft. In
       der neuen Saison stehen nun insgesamt sieben Spieler, die beim Verein
       ausgebildet wurden, im Profikader.
       
       Doch solche Erfolgsmeldungen könnten bald der Vergangenheit angehören. Eick
       weiß, dass es über kurz oder lang nur zwei Wege für die Jugendarbeit gibt:
       Zum einen kann St. Pauli sich an dem Poker um den Nachwuchs beteiligen –
       mit weit höherem finanziellen Einsatz als bisher. Oder der Verein
       verzichtet auf sein Ziel, aus jedem Jahrgang zwei bis drei Spieler an den
       Profikader heranzuführen. Er würde zur Resterampe verkommen.
       
       „Beide Wege führen dazu, dass auch im Nachwuchsbereich die Schere zwischen
       den reichen und den kleineren Clubs immer größer wird“, sagt U23-Trainer
       Elert. „Wir müssen über die Verbände dazu kommen, dass sich die
       ausbildenden Vereine als Solidargemeinschaft verstehen – und wenn es zu
       einem Wechsel kommt, muss es eine angemessene Vergütung an den abgebenden
       Verein geben, die die bisherigen Ausbildungskosten zumindest abdeckt.“ Das
       klingt gut und vernünftig – doch auch recht weit entfernt von der Realität.
       
       3 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kristof Botka
   DIR Marco Carini
       
       ## TAGS
       
   DIR Transfermarkt
   DIR Jugendsport
   DIR Miroslav Klose
   DIR Deutscher Fußballbund (DFB)
   DIR Fußball
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Qualifikation zur Champions-League: „Drops noch nicht gelutscht“
       
       Trotz der 0:1-Niederlage bei Lazio Rom geht Bayer Leverkusen zuversichtlich
       ins Rückspiel um den Einzug in die Champions League.
       
   DIR Steffi Jones wird neue Bundestrainerin: „Aus der kalten Hose heraus“
       
       DFB-Direktorin Steffi Jones folgt im September 2016 auf Silvia Neid. Die
       Entscheidung kommt überraschend – und wirft etliche Fragen auf.
       
   DIR Nachwuchsförderung im Fußball: Sie dürfen nur spielen
       
       In der Youth League kann Schalke gegen Chelsea gewinnen. Eine Geschichte
       über Talente, die sich an die Grenze der Belastbarkeit vorwagen.
       
   DIR Fußball & Gender in Berlin: „Sie sagten: Frauenfußball ist kein Fußball“
       
       Blöde Sprüche, Vorurteile, schlechte Bezahlung: Jennifer Zietz, Kapitänin
       von Turbine Potsdam, erzählt, wie es war, Profifußballerin zu werden.