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       # taz.de -- Kolumne German Angst: Balkanisierung ist Europas Albtraum
       
       > Die EU erschafft sich gerade genau den Balkan, den sie so sehr fürchtet
       > und doch erfunden hat: chaotisch, korrupt und nah am Bürgerkrieg.
       
   IMG Bild: Flüchtlinge in einem Park in Belgrad, im Juli 2015.
       
       Wenn es den Balkan nicht gäbe, müsste man ihn erfinden“, schrieb Graf
       Hermann Keyserling im Jahr 1928. Obwohl geografisch auch bloß ein Teil
       Europas, wurde der Balkan immer wieder als das Andere konstruiert. Als eine
       Art Verwahrungsort für die unterdrückten Dämonen Westeuropas: Gewalt,
       Krieg, Chaos, Armut, Schmutz.
       
       Zwischenzeitlich, oder genauer gesagt seit Kroatien, Rumänien und Bulgarien
       EU-Mitglieder sind, hat sich der Balkanbegriff etwas entschärft. Doch nun
       ist er wieder da, mit all seinen abwertenden Konnotationen. Zurückgeholt
       hat ihn die Debatte um die sogenannten Balkanflüchtlinge.
       
       Und dieser neue wie alte Balkan ist aufs Engste mit antiziganistischen
       Ressentiments verknüpft, die Klischees austauschbar. Damit ist es auch kaum
       verwunderlich, dass in Bayern „Sonderlager“ für Balkanflüchtlinge
       eingerichtet werden sollen. Die größte Gruppe unter ihnen sind nämlich
       Roma. Aber Moment, Lager für Roma? Richtig, die gab’s ja schon mal! Aber
       egal, der Antiziganismus steckt so tief, dass dem Sortieren nach
       „Wirtschaftsflüchtlingen“ (im Volksmund „Sozialschmarotzer“) und „echten“
       Flüchtlingen kaum widersprochen wird.
       
       Ganz so als ginge es um Kontingente, nicht um Grundsätzliches wie die Frage
       nach der Verteilung des Reichtums, des Zusammenlebens, Menschlichkeit. Für
       Typen wie Winfried Kretschmann jedenfalls kann es nicht genug „sichere
       Herkunftsstaaten“ geben, in deren Slums man Roma deportieren kann.
       Rassismus? Gibt es nicht. – Ist das einfach nur schäbig oder schon
       Hatespeech?
       
       ## Rostock lässt grüßen!
       
       Die besorgten BürgerInnen verstehen den Freifahrtschein und sammeln sich,
       das Bild vom schmarotzenden Balkanflüchtling im Kopf vor den
       Containerstätten. Sie geben nicht eher Ruhe, bis die Politik ihre
       rassistische Fantasie hat real werden lassen: schmutzige Menschen, im
       Freien campierend, für Essen anstehend, die Notdurft auf der Wiese
       verrichtend. Rostock lässt grüßen!
       
       Und mag auch das eine oder andere heute anders sein: Der rassistische Mob,
       und die an Beihilfe grenzende Ruhe, mit der Polizei und Politik ihn
       gewähren lassen, ist es nicht. Auch die Arbeitsteilung funktioniert wie eh
       und je: Hier der Pöbel, auf den die Medien schauen, dort die politische
       Elite, die nebenher das Asylrecht abträgt.
       
       Und apropos Balkan. Während hier also Front gegen die Flüchtlinge gemacht
       wird, errichtet die EU dort eine Art Pufferzone, in der die „wahren“ aber
       ebenfalls unerwünschten Flüchtlinge anlanden. Der Balkan – Mazedonien,
       Serbien und Bosnien – ist Transitland für die Hunderttausenden aus Syrien,
       dem Irak und Afghanistan. Sie alle warten auf ihre Chance, aus dem
       abgeriegelten Wasteland zwischen der ungarischen (und bald auch
       kroatischen) Mauer und den EU-Mitgliedern im Osten über die Schengengrenze
       zu kommen.
       
       Hier erschafft die EU genau jenen Balkan, den die selbst so sehr fürchtet
       und doch erfunden hat: verarmt, ohne Zukunft, chaotisch, korrupt. Immer
       näher am Bürgerkrieg. Die Balkanisierung, das ist der Albtraum des – noch –
       prosperierenden Deutschlands. Willkommen in der Realität.
       
       4 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sonja Vogel
       
       ## TAGS
       
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