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       # taz.de -- Opfer der Hiroshima-Bombe: Das Friedensboot der Überlebenden
       
       > Hiroe Kamada war drei Jahre alt, als die Bombe fiel, Takako Kotani sechs.
       > Heute kämpfen sie gegen die Atomkraft.
       
   IMG Bild: Die Bauchrednerin Kotani Takako mit einer ihrer Puppen.
       
       Schwerer Seegang. Das „Peaceboat“ kämpft sich durch sturmgepeitschte
       Wellen. Die meisten Passagiere haben sich längst in ihre Kabinen
       zurückgezogen. Auch sie kämpfen, allerdings gegen die Übelkeit. Hiroe
       Kamada indes sitzt aufrecht wie immer. Schließlich hat sie viel Schlimmeres
       durchgemacht.
       
       Ihr gerader Rücken scheint auch dem weiten Hemd noch eine Haltung zu geben.
       Kamada trägt gern eine Baseballmütze auf dem kurzen Haar – aber nie so tief
       in das fein geschnittene Gesicht gezogen, dass davon etwas versteckt würde.
       Versteckt hat sie sich lange genug.
       
       Mit drei Jahren überlebte sie den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima. Sie
       habe daran keine klaren Erinnerungen, sagt Hiroe Kamada. So, als wolle sie
       sich noch einmal überlegen, was sie überhaupt erzählt. Ihr einziges Bild
       vom 6. August 1945 ist das einer großen, schwarzen Wolke. Die Luft voller
       dunkler Partikel. Staub und Atemnot.
       
       Zwischen damals und heute liegt eine lange Geschichte, über die sie auf dem
       Peaceboat zum ersten Mal öffentlich spricht. Denn es sei Zeit, meint die
       73-Jährige. Davon habe sie ja nicht mehr viel. So trifft Frau Kamada
       Schüler und Bürgermeister in verschiedensten Städten der Nordhalbkugel. Sie
       will mit ihren Erinnerungen ein Bild vom Wahnsinn der Atomenergie zeichnen.
       „Keine Nuklearwaffen“, so ihr Credo. Und: „Keine Atomkraftwerke“. Denn auch
       die Kinder von Tschernobyl und Fukushima, davon ist sie überzeugt, werden
       seelische Erkrankungen durchleben müssen, wie sie selbst.
       
       Fast ihr ganzes Leben hatte Kamada Angst vor dem Einschlafen. Einzuschlafen
       bedeutete für sie, die Kontrolle über das Bewusstsein zu verlieren. Und das
       war gleichbedeutend mit dem Tod. Den fürchtete sie, sehnte ihn aber
       aufgrund der Qualen auch immer wieder herbei. Zerrissen zwischen dem
       Instinkt, wie sie es nennt, leben zu wollen und dem, was ihr das Leben über
       Jahrzehnte zur Hölle machte.
       
       ## Strahlenbelastung und Depressionen
       
       Sie litt unter schwersten Depressionen, für die sie keine Erklärung hatte,
       nur einen körpereigenen Schutzmantel, den sie sich selber zulegte: zwanzig
       Kilo mehr als heute. Der zierlichen Frau ist davon nichts mehr anzusehen.
       Nur der ständige Wegbegleiter zeugt davon, ihr Gehstock. Irgendwann konnte
       das Knie die Lebenslast nicht mehr tragen.
       
       Erst jetzt schafft es Hiroe Kamada, offen über ihre Selbstmordphantasien zu
       sprechen. Sie habe sich mehrfach versucht, das Leben zu nehmen, weil sie
       dachte, ihre Depressionen seien angeboren. Gewissermaßen ein Fehler der
       Natur, den sie kaum aushalten konnte. Erst nach der Geburt ihres ersten
       Kindes verstand sie durch eine medizinische Untersuchung, ihre depressiven
       Schübe einzuordnen. Der damalige Befund: erhöhte Strahlenbelastung im
       Körper. Lange blieb das unerkannt, weil die Eltern mit dem Weiterleben
       kämpften. Auch sie hatten die Atombombe überlebt. Anders als
       Hunderttausende in Hiroshima und Nagasaki, die durch Explosion und
       Folgeschäden starben. So viel Glück in einem solchen Unglück macht still.
       Da werden Traumata und seelischen Probleme verdrängt.
       
       Hiroe Kamada kam über eine schlichte Zeitungsanzeige auf das Peaceboat. Die
       NGO suchte für ihre Weltreise „Hibakusha“, also Überlebende von Hiroshima
       und Nagasaki“. Die aktuelle Kampagne: 70 Jahre Hiroshima.
       
       Das Peaceboat ist für Kamada ein geschützter Ort, um endlich von ihren
       Erinnerungen zu erzählen, vor allem jungen Menschen. Das ist ihr wichtig.
       An Bord sind Studenten, Berufsunterbrecher, Friedensaktivisten zwischen
       ganz normalen Touristen. Darunter viele, die in erster Linie am
       Kulturprogramm in den Hafenstädten interessiert sind, an Yoga und Tai Chi.
       Aber auch sie werden nach der dreimonatigen Weltreise nicht von Bord gehen,
       ohne von den Geschichten der Hibakusha berührt worden zu sein. In Workshops
       und vielen Gesprächen auf hoher See erzählen Kamada und andere
       „A-Bomb-Survivor“. Auf Kreuzfahrt kreuzen sich auch die Gesprächsfäden.
       Unweigerlich. Darauf beruht das Peaceboat-Konzept: Dialoge in Gang zu
       setzen, deren Schwingungen mit den Passagieren von Bord gehen und sich
       weiter ausbreiten.
       
       ## Die Kraft des Puppenspiels
       
       Mit ihrer Passage finanzieren die Touristen letztlich das Friedensprojekt.
       So hält es sich über Wasser. An Land werden die Hibakusha eingeladen oder
       suchen den Dialog, vor allem mit Kindern und Jugendlichen. Zukünftige
       Generationen sind ihnen wichtig. Sie wollen nur zurückblicken, um nach vorn
       zu schauen. Nur das sei wichtig. So geht es auch Takako Kotani. Sie war
       sechs Jahre alt als die Bombe fiel, zweieinhalb Kilometer von ihrem
       Elternhaus entfernt. Die Druckwelle begrub sie unter den zusammenbrechenden
       Holzwänden.
       
       „Es war ein strahlend schöner Sommertag“, erinnert sich Kotani, als wäre es
       heute: „Ich spielte draußen mit meinen Geschwistern. Es war ganz still. Nur
       im Blau des Himmels kreiste eine B29. Wir kannten diese Flugzeuge der
       Amerikaner. Ich rannte nach Hause. Plötzlich war da ein greller Blitz, der
       uns alle in die Hölle katapultierte.“ Takako Kotani wird von ihrer Mutter
       fast unverwundet aus den Trümmern gezogen. Ihre (10-jährige) Schwester und
       der (4-jährige) Bruder aber sind von Druck und Hitze fortgerissen worden.
       Als Kotani sich auf die Suche macht, kommen ihr Menschen entgegen, die sie
       als solche nicht mehr erkennen kann: aufgedunsene Gesichter, Haut und
       Fleisch hängen wie Fetzen am Körper.
       
       Ein Bild, das sie nie losgelassen hat. Sie breitet es heute als
       Bauchrednerin auf der Bühne aus, nutzt dabei die Kraft des Puppenspiels, um
       zu bewältigen, was eigentlich kaum zu bewältigen ist – oder nur in Form der
       Fiktion. Als sei es ein Theaterstück. Die Puppe ist ihr gestorbener kleiner
       Bruder. Fünf Tage quälte er sich an seinen Verletzungen. Ihre Mutter starb
       später an Leukämie, der Vater kam in der Marine ums Leben.
       
       Kotani hadert lange mit ihrem Schicksal, überlebt zu haben. Sie habe es
       gehasst, sagt sie. Als sie selber Mutter wird, muss sie schließlich
       erleben, wie sich Ängste und Traumata in der nächsten Generation
       fortsetzen. Und das wird zum Antrieb, über sich zu sprechen. Fast immer mit
       ihrer Puppe Adja.
       
       Das Grauen an- und auszusprechen. Genau das ist der Motor, der alle
       Überlebenden der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki auf dem Peaceboat
       antreibt. Sie wollen warnen, mahnen, sensibilisieren, ob in Athen, Hamburg
       oder St.Petersburg. Es geht ihnen um eine atomfreie Zukunft, die sie selber
       nicht mehr erleben werden. Aber sie kämpfen dafür.
       
       6 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nicola von Hollander
       
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