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       # taz.de -- Die Spree in Berlin: Eine fast mediterrane Kulturmeile
       
       > Die BerlInerinnen sind als nörgelig verschieen. Doch die Spree macht
       > selbst sie irgendwie glücklich.
       
   IMG Bild: Spaziergänger auf der Berliner Monbijoubrücke über die Spree.
       
       Die eher als quengelig verschrienen BerlinerInnen präsentieren sich
       sommerlichen BesucherInnen der deutschen Hauptstadt ausgeglichen. Der Grund
       dafür: in jeder freien Minute strebt Arm und Reich hier voller Freude ans
       Wasser, oft vor der eigenen Haustür. Schon durch das eigentliche
       Stadtgebiet winden sich Flüsse und Kanäle mit einer Uferlänge von etwa
       1.000 Kilometern, wie ein liederlich gehäkelter Strang aus mehreren Fäden.
       Berlins Ruf als Ort pseudomediterraner Lebenskunst machte die Stadt
       weltweit zum Magneten für TouristInnen. Die Stadt aus der Flussperspektive
       heraus zu erkunden, lohnt sich auch für sie.
       
       Der Ursprung der Spree liegt für die meisten BerlinerInnen im Dunkeln. Bis
       heute beginnt der Fluss für sie erst im äußersten Osten des Stadtgebiets,
       mit dem Müggelsee, einem dicken, durch die Spree gebildeten Wasserbauch und
       ein beliebtes Ziel von Fahrgastschiffen. Von den zahlreichen Berliner Seen
       ist dies der größte und wildeste. Wer sich an den Ufern von einer
       Badestelle zur anderen vorwärts tastet, könnte manchmal eine Machete
       gebrauchen. Ganz anders im Ortsteil Friedrichshagen am Ufer. Dieser Teil
       ist an die Berliner S-Bahn angebunden.
       
       Ende des 19. Jahrhunderts koexistierten hier ein Luftkurort und eine
       Künstlerkolonie. Der Gerhard Hauptmann nahestehende Friedrichshagener
       Dichterkreis (gegründet 1888/89) vereinte bohèmehaften Lebenswandel mit
       lebensreformerischen Ziele. Noch heute findet man in Friedrichshagen ein
       Dichterkreis-Museum, trifft auf Schritt und Tritt auf Jugendstildekor, kann
       in hübschen kleinen Pensionen übernachten, vor putzigen Cafés und
       Geschäften in der Bölschestraße flanieren und in zwei Badeanstalten im
       Müggelsee schwimmen – also genau genommen in der Spree.
       
       Weiter oben im Fluss, auf Höhe des Treptower Parks mit dem sowjetischen
       Ehrenmal, ist das Baden im Fluss bereits verboten. Die meisten
       Chemikalieneinleitungen sind zwar eingestellt. Bei ruhigem Sommerwetter
       schimmert das Wasser jetzt wieder hellgrün. Vor der Stadt sind die lang
       ersehnten Laichkräuter zurückgekehrt und mit ihnen über 30 Fischarten.
       
       In der Lausitz ist die Spree gar der muschelreichste Fluss Deutschlands.
       Doch innerhalb Berlins werden noch immer Abwässer eingeleitet. Vor allem
       wenn Sommergewitter das Wasser aus der Kanalisation übertreten lassen.
       Zudem sind die Lausitz und Brandenburg die Regionen Deutschlands, in denen
       der Klimawandel am unerbittlichsten zuschlägt. In manchen Sommern herrscht
       hier jetzt fast Steppenklima. Die Spree bleibt dann in Berlin stehen und
       fließt manchmal sogar rückwärts.
       
       ## Im Sommer Pool, im Winter Sauna
       
       1994 als der bisherige Schauspieler Falk Walter ein ausrangiertes Busdepot
       im einstigen Treptower DDR-Grenzstreifen als ideales Gebäude für ein
       eigenes Theater aufspürt, ist es für ihn zunächst nur ein willkommener
       Zufall, dass es sich am Wasser erstreckt. Ihn reizt die riesige Halle, mit
       mehr als 7.000 Quadratmetern in den 20er Jahren errichtet, heute ein
       Event-Ort für Theater, Kabarett und Konzerte.
       
       Doch 2004 verankert sich das Badeschiff am Arena-Strand und wird im Ausland
       zu einem Wahrzeichen Berlins wie der Fernsehturm am Alex. Den ehemaligen
       Lastkahn hat man zum Schwimmbad umfunktioniert. In ihm können – bei
       gleicher Höhe beider Wasserspiegel – die Badenden wenigstens so tun, als
       schwämmen sie bereits im Fluss. Oft ertönt laut der Pfiff des Bademeisters.
       Denn an heißen Sommertagen wollen die Berlinerinnen und Berliner nicht nur
       an die Spree sondern – verbotenerweise – vor allem in die Spree. Hier ist
       sie siebenmal breiter als in Berlin-Mitte.
       
       Im Sommer Pool, im Winter Sauna, verwandelt sich das Badeschiff mit seinem
       hölzernen Vorbau bisweilen auch in eine zusätzliche Überwasserbühne. Bei
       jeder Aufführung dort bringen sich Rettungsschwimmer in Position, um
       eventuell ins Wasser fallende Künstler wieder herauszufischen.
       
       ## Am Flutgraben
       
       Zielgerichtet sprangen zur Zeit der deutschen Teilung Arbeiter aus der
       Reparaturwerkstatt des Omnibusdepots in den hier von der Spree abzweigenden
       kleinen Flutgraben. Der gehörte schon zu Westberlin, ebenso wie der 300
       Meter weiter ebenfalls aus der Spree abzweigende Landwehrkanal.
       
       Heute befinden sich in dem ehemaligen Reparaturbetrieb Künstlerateliers.
       1928 erbaut, ragt das Haus wie der Bug eines Ozeandampfers an der einen
       Seite aus dem Fluss, an der anderen eben aus dem Gewässer namens
       Flutgraben. Hier fehlte also der sonst obligatorische befestigte
       Grenzstreifen, blieb kein Zentimeter Raum zwischen Ostgemäuer und
       Westgewässer. Auf dem niedrigen Dachboden befand sich der im Sommer glühend
       heiße Aufenthaltsraum der Grenzer, die hier eine Menge Inschriften und
       Zeichnungen hinterließen, als Botschaft an die Nachwelt.
       
       Im Laufe der Jahre seilten sich etwa 30 Handwerker aus diesem Betrieb ab
       und türmten gen Westen. Deshalb mauerte man die Arbeiter allmählich ein,
       füllt die Fensterrahmen mit Ziegeln aus, führte Sauerstoff über künstliche
       Luftschächte zu.
       
       Außer dem Ideenreichtum der eingemauerten Handwerker erwies sich auch ein
       renitenter Fischer auf der anderen Seite des Flutgrabens als Prüfung für
       die Grenzer. Im Schatten der Mauer gedieh dort sein Betrieb. Er rammte mit
       seinen Booten manchmal fast ihre Wasserfahrzeuge und leitete
       Flutgrabenwasser in seine Aufbewahrungsbecken für lebende Fische. Auf
       seinem einstigen Territorium befindet sich heute eines der optisch
       originellsten Restaurants an Berliner Gewässern: Das „Freischwimmer“ könnte
       mit seinen Bretterbuden auch irgendwo in Südostasien liegen, bietet aber
       Küche quer durch Europa.
       
       ## Das Yaam
       
       Im Osten der Stadt hatte man die Flussufer jahrzehntelang baulich in Ruhe
       gelassen. Hier fanden sich viele Industriebrachen, verwilderte Grundstücke
       und heruntergekommene Gebäude. Etwa ab dem Jahr 2000 verließ die Berliner
       Partyszene im Sommer ihre Keller und begab sich an diese Ufer. In einer
       Handvoll von Clubs trafen zum Chillen hier eigens angereiste Gäste aus
       Australien und Japan auf einheimische Kids. Dass die Stadt Räume für
       unterschiedlichste Szenen bietet, ohne sie zusammenzuzwingen, zieht noch
       heute Ströme von Touristen an. Die an die Problemkieze
       Friedrichshain-Kreuzberg, Neukölln und Treptow angrenzenden Spreewiesen
       sind Fliegenleimstreifen für das soziale Miteinander. Sie fügen sich in
       eine einzigartige Kulturmeile. Doch der größte Teil der neuen Paradiese ist
       bedroht durch aggressive Bebauungspläne.
       
       Jetzt an der Schillingbrücke, nicht weit von seinem Gründungsort entfernt,
       hat das Yaam (eine Abkürzung für Young African Market) – von all diesen
       inoffiziellen Institutionen am längsten fast unverändert überlebt. Als
       besonderen Mischung von Jugendprojekt und Club mit vielen Konzerten großer
       internationaler Reggae-Stars, mit afrikanischer und karibischer Küche, mit
       Sportmöglichkeiten und Strand. Der Zutritt tagsüber ist in der Woche für
       alle kostenlos, sonntags kostet er nur für Erwachsene, dafür gibt’s für die
       Kids Trommel- und Malworkshops und einen Pool.
       
       ## Brillant am Band der Spree
       
       Von einem Nachbargrundstück hallen Tanzmelodien übers Wasser. Die
       Teilnehmer an den Tanznachmittagen des Radialsystems kommen dazu gern eine
       Stunde früher, um auf der Hochterrasse, dem sogenannten Deck, bei einem
       Drink ,die Sonnenuntergänge zu genießen. „New Space for the Arts“ war das
       Motto für das private Kunst-, Tanz-, Konzert- und Tagungszentrum
       Radialsystem V.
       
       Ein Brillant am Band der Spree: die funkelnd geschliffenen geraden Kanten
       seines roten Klinkerkörpers gehörten zu einem historischen Berliner
       Wasserwerk. Das alten Gebäude umarmt heute eine riesige moderne
       Glasgalerie, geschaffen von dem Architekten Gerhard Spangenberg. Mit dem
       Sonnendeck im dritten Stock, mit der für alle Vorübergehenden frei
       zugänglichen Spreeterrasse und dem Bootssteg ist das Haus heute offen,
       nicht nur zum Wasser hin, sondern auch für neue Ideen.
       
       Die Veranstaltungen hier sind heute so begehrt, dass man sich dafür sogar
       Karten kauft, ohne zu wissen, was eigentlich läuft. Die Tanzkompagnie Sasha
       Waltz & Guests und einige befreundete Ensembles betreiben hier so etwas wie
       eine Manufaktur für Hochkultur und sind gern gesehene Gäste bei
       Goethe-Instituten in aller Welt. Vor allem aber verbindet sie die
       Atmosphäre ihrer Heimstätte am Wasser.
       
       ## Der Spreekanal
       
       In Berlin-Mitte, nahe der Museumsinsel, verlief die Grenze zu DDR-Zeiten
       mitten im Fluss, die Ufer waren Niemandsland und die Spree für ihre
       AnwohnerInnen fast unsichtbar. Auch wenn sie hier wie ein schmutziger Kanal
       eingezwängt zwischen eisernen Spundwänden verläuft, erschien sie den
       BürgerInnen als Fata Morgana – wie das eigene Neugeborene einem bis dato
       unter unerfülltem Kinderwunsch leidendem Ehepaar. Flugs stellten sie
       Liegestühle an die Ufer. Die ersten Strandbars entstanden.
       
       ## Der Kupfergraben
       
       Ein und die selbe Spreeinsel, auf der Berlins Schwesterstadt Cölln aus dem
       Schlamm erwuchs, heißt an ihrem nördlichen Ende Museums- an ihrem südlichen
       Ende Fischerinsel. Ein kleiner Kanal umfließt sie von der einen Seite. Von
       der anderen wird sie vom Hauptarm des Flusses mit der Mühlendammschleuse
       begrenzt. Der kleine Kanal trägt streckenweise den Namen Kupfergraben. An
       diesem, eher wenig frequentierten Abschnitt überspannt ihn die älteste
       Brücke Berlins, die grazile, sogenannte Jungfernbrücke. In ihrer heutigen
       Gestalt wurde sie 1798 als Zugbrücke errichtet.
       
       Der Kupfergraben ist für den Schiffsverkehr gesperrt. Deshalb kamen die
       Berliner Architektenbrüder Jan und Tim Edler bereits vor 14 Jahren auf eine
       Idee, die sie erst viel später der Öffentlichkeit vorstellten: Sie wollen
       den Kupfergraben in ein 750 Meter langes Flussbad mitten in der Stadt
       verwandeln. Wer will, soll einfach so hineinhüpfen. Inzwischen haben sie
       damit den mit 100.000 US-Dollar dotierten Holcim Award gewonnen, einen
       international renommierten Preis für nachhaltige Architektur. Zentrales
       Element bei diesem Projekt ist ein Pflanzenfilterbecken für das Wasser.
       Filmaufnahmen aus Kaisers Zeiten zeigen, dass man damals durchaus hier
       schwamm.
       
       ## Schloss Charlottenburg
       
       Das Schloss selbst wurde zwar 1699 als Sommerresidenz für Sophie Charlotte
       fertiggestellt, die Gemahlin des Kurfürsten Friedrich III. Doch heute
       gehört es allen. Die Anwohner haben dafür gekämpft und gesiegt: JedeR kann
       sich völlig gebührenfrei in diesem prächtigen Barockgarten mit
       Brunnenanlagen ergehen. Ein Denkmal für das Volk ist auch das Mausoleum der
       jung verstorbenen Königin Luise, Preußens Königin der Herzen.
       
       Im Park kann man sich vorstellen, wie es gewesen sein muss, vom
       Stadtschloss aus mit dem Schiff hierher zu gleiten: direkt vor die
       Schlosstür. Wer gern zu Fuß geht, findet im hinteren Teil des Parks den
       Beginn eines der schönsten Wanderwege an der Spree. Er führt vorbei an
       Kleingärten und Industriebaudenkmälern in Richtung Spandau bis zum
       U-Bahnhof Ruhleben.
       
       ## Die Flatterfestung
       
       Die Spree schleicht im Bezirk Spandau auf ihr ernüchterndes Ende zu.
       Entsprungen ist sie im Oberlausitzer Bergland an der tschechischen Grenze.
       Nach 400 Kilometern mündet sie hier in die Havel. Was heißt hier: „mündet“?
       Die Havel führt nur halb so viel Wasser wie die Spree.
       
       Gerechterweise müsste die Havel also „Spree“ heißen. Deshalb sei noch die
       an diesem hochstaplerischen Gewässer gelegene Spandauer Zitadelle erwähnt,
       eine Renaissancefestung. Hier lauert auf Naturfreunde am Ende eines langen
       Tagestrips ein unvergleichliches Schauspiel in der Dämmerung. In der
       Zitadelle befindet sich heute eines der größten Fledermausquartiere in
       Mitteleuropa. Um die zehntausend Exemplare überwintern hier jährlich.
       
       Führungen ganz besonderer Art veranstaltet hier Ende Juli und in der
       zweiten Augusthälfte das Berliner Artenschutzteam – BAT e. V. – mit dem
       Floß auf den Gräben unterhalb der Festung. Obgleich immer noch innerhalb
       der Stadt, bekommt man dabei gelegentlich auch einen Biber oder Eisvogel zu
       sehen. Vor allem aber liefern die jagenden Wasserfledermäuse eine
       Stunt-Show. Sie krallen sich Insekten und Larven kurz über oder unter der
       Wasseroberfläche, drehen dabei gelegentlich sogar die eigenen, weißen
       Bäuche himmelwärts und landen beim Zusammenstoß mit KonkurrentInnen
       gelegentlich selbst im Wasser – von wo aus sie hektisch ans Ufer zappeln.
       
       8 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Kerneck
       
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