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       # taz.de -- Neuer Lübecker in Lübeck: Der fröhliche Herr Harety
       
       > 800 Mitglieder, ein neuer Rabbi und bald auch eine renovierte Synagoge:
       > Die Lübecker jüdische Gemeinde erholt sich.
       
   IMG Bild: Will eine fröhliche Gemeinde und macht gleich den Anfang: Lübecks Rabbi Harety.
       
       Am Freitagabend strömen die Gläubigen ins Untergeschoss eines Hauses in der
       Lübecker Altstadt. Die Männer rücken ihre Kippa zurecht, die Frauen nehmen
       ihre Plätze im hinteren Teil des Gebetsraums hinter einem durchsichtigen
       Vorhang ein. Rabbi Yakov Yosef Harety lässt den Blick schweifen und nickt
       zufrieden: Es sind genug Besucher für einen Gottesdienst da; zehn Männer
       über 13 Jahren müssen es sein. Harety ruft alle herein, die noch draußen
       plaudern. Dann beginnt der Gottesdienst – mit einem Rabbiner an der Spitze
       statt eines Vorbeters. 77 Jahre lang hatte Lübeck keinen Rabbi. Und nun
       rückt auch die Wiedereröffnung der Synagoge näher.
       
       Jüdische Familien leben seit Mitte des 17. Jahrhunderts in Lübeck –
       vereinzelt, denn Lübeck gehörte nicht zu den Orten im heutigen
       Schleswig-Holstein, in die Juden ungehindert zuziehen durften. Erst das 19.
       Jahrhundert brachte neue Freiheiten. Eine Gemeinde entstand und erwarb ein
       Grundstück in der Altstadt. Unter Rabbiner Salomon Carlebach wurde 1880
       eine Synagoge gegründet, mit einer Fassade im pseudo-orientalischen,
       „maurischen“ Stil.
       
       700 Mitglieder zählte die jüdische Gemeinde vor dem Ersten Weltkrieg.
       Wegzüge in der Wirtschaftskrise und der Holocaust vernichteten die Gemeinde
       fast ganz. Nur das Gebäude der Synagoge überstand die Pogromnacht 1938
       einigermaßen, weil es in der Altstadt stand und die Brände, die Nazis hier
       wie in anderen Synagogen legten, rasch gelöscht wurden. Aber die Fassade
       wurde durch Backstein ersetzt und eine Sporthalle eingerichtet. Nach dem
       Zweiten Weltkrieg gründete sich die Gemeinde neu. Aber sie war klein. 1952
       waren laut „Jüdischer Allgemeine“ noch 30 Lübecker jüdisch.
       
       Rabbi Harety hat seinen Gebetsschal umgelegt, ein breitrandiger Hut bedeckt
       seine Kippa. In Hebräisch spricht er die Worte der Liturgie. Wenn er sich
       umdreht, um der Gemeinde das nächste Lied anzusagen, tut er es auf
       Russisch. Von den inzwischen rund 800 Mitgliedern der Gemeinde stammen
       „eine aus Israel und 799 aus der ehemaligen Sowjetunion“, sagt der Rabbi.
       Russisch ist die Alltagssprache in der Gemeinde, obwohl viele seit Jahren
       in Deutschland leben: „Anfangs sagen alle, sie wollen nur deutsches
       Fernsehen schauen, um die Sprache besser zu lernen, aber am Ende schaltet
       man doch um“, sagt ein Gemeindemitglied.
       
       Dass Rabbi Harety flüssig Deutsch und Russisch spricht, empfinden viele als
       Glücksfall: „Er bringt neuen Schwung“, sagt eine Frau. Sie komme seither
       häufiger. Harety freut das: „Ich will für Rückenwind sorgen“, sagt er. Er
       lacht viel und gern – das ist Teil seiner Botschaft: „Religion muss nicht
       immer ernst sein.“ Viele Leute hätten nie einen fröhlichen Rabbi gesehen.
       „Und dann komme ich“, sagt der 44-Jährige und breitet die Arme aus.
       
       Yakov Yosef Harety ist schwer zu übersehen, ein großer Mann mit Bart und
       einer vollen Stimme. Der Israeli aus Jerusalem hat Theologie studiert, lebt
       aber seit 20 Jahren im Ausland: in Moldawien und Weißrussland, Indien und
       Neuseeland. Seit 2003 arbeitet Harety nun schon in Deutschland und betreut
       derzeit neben der Lübecker auch die Wolfsburger Gemeinde. Die Arbeit in der
       Fremde, auch in Deutschland, sei seine Berufung: „Mitglieder meiner
       Familie, auch der meiner Frau, sind im Holocaust gestorben. Ich weiß, dass
       Gott erwartet, dass ich hinausgehe und den Glauben überliefere.“
       
       Deutschland, ein normales Land für eine jüdische Gemeinde? Hmm, macht
       Harety. Sicher seien Besuche von Botschaftern wichtig. Aber Normalität
       müsse sich im Alltag zeigen. Es gehe darum, sich sicher zu fühlen. „Dafür
       muss der Staat sorgen“, sagt Harety. Und das gelinge nicht immer: „Es gibt
       Anfeindungen, Probleme.“ Er nennt Fälle aus Berlin als Beispiel, aber er
       hoffe, dass Lübeck in dieser Hinsicht eine heile Welt werde.
       
       Die Stadt von Thomas Mann und Günter Grass, die großbürgerliche Hansestadt
       mit ihren restaurierten Häusern ging „als die Stadt in die Geschichte ein,
       in der zum ersten Mal nach fünfzig Jahren wieder eine Synagoge gebrannt
       hat“, sagte Bürgermeister Michael Bouteiller 1994. Damals flogen
       Molotowcocktails in das jüdische Gotteshaus. Die vier später gefassten und
       verurteilten Täter richteten hohen Sachschaden an.
       
       1995 gab es einen zweiten Anschlag auf die Synagoge; diesmal fand man die
       Täter nicht. 1996 brannte ein Haus, in dem Flüchtlinge lebten. Zehn
       Menschen starben und wieder hieß es: Täter unbekannt. „Bloß keine rechte
       Spur“, titelte die taz damals. Dass vor wenigen Wochen, im Juni 2015,
       Unbekannte einen Brandanschlag auf ein noch unbewohntes Haus für
       Flüchtlinge verübten, vermerkte die Öffentlichkeit angesichts vieler
       ähnlicher Taten ohne große Erregung.
       
       Nach dem Gottesdienst an diesem Freitag geht es in einen Nebenraum zur
       Sabbatfeier: Der Rabbi bricht das Brot für alle, Wein und Salate stehen auf
       dem Tisch. Lübeck zählt zu den orthodoxen Gemeinden, obwohl es in
       Schleswig-Holstein auch einige Liberale gibt.
       
       Harety, dessen Vater und Großvater bereits Rabbiner waren, hält die
       strengeren Regeln etwa für koscheres Essen oder Verhalten am Sabbat für
       richtig: „Niemand streitet mit der Polizei, ob ein Verkehrsschild dumm ist.
       Nur in der Religion will jeder ein Feinschmecker sein und sich vom Buffet
       nur das picken, was ihm schmeckt.“ Das sei Hochmut, meint der Rabbiner, der
       Vater dreier Töchter ist. Dass keine von ihnen nach orthodoxer Lehre die
       rabbinische Familientradition fortsetzen darf, stört Harety nicht: „Man
       muss kein Rabbi sein, um ein guter Jude zu sein.“
       
       Mit der Renovierung der Synagoge allerdings ging es jahrelang nicht richtig
       voran. Viele Gemeindemitglieder wollten, dass die „maurische“ Fassade
       wiederhergestellt würde, aber der Denkmalschutz war dagegen. Historiker
       argumentieren, dass auch der Umbau in der Nazizeit zur Geschichte gehört.
       Und die Zuschüsse – rund eine Million Euro vom Land, 300.000 von
       städtischen Stiftungen – gibt es nur, wenn der schlichte Backstein bleibt.
       
       Für Harety ist vor allem wichtig: „Dies ist kein Denkmal, sondern eine
       arbeitende Synagoge, in der wieder Gemeindeleben stattfinden soll.“ Man
       könnte nicht noch jahrelang in einem improvisierten Betsaal im Gemeindehaus
       arbeiten. „Staatliche Unterstützung spielt nicht die wichtigste Rolle, aber
       sie ist grundlegend für unsere zukünftige Arbeit und für die Zukunft von
       Judentum in Lübeck. Es gibt ein Unterschied zwischen einer Synagoge als
       Denkmal und einer lebendigen Synagoge mit Rabbiner“, betont der Rabbi.
       
       Inzwischen haben die Arbeiten begonnen. Jüngst erlebte der Rabbiner eine
       freudige Überraschung. „Der Bauleiter sagte, Neujahr wäre alles fertig. Ich
       war sehr froh, bis ich begriffen habe: Er meint Dezember. Ich dachte
       natürlich, er meint unser Neujahr im September“, sagt Harety. Und dann
       lacht er wieder schallend.
       
       10 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Esther Geißlinger
       
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