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       # taz.de -- Urteile über NS-Verbrechen: Auschwitz vor Gericht
       
       > Klarer Fall von Unwillen in Jusitz und Politik: Lange fehlten die
       > Rechtsgrundlagen, um die Verbrechen von Auschwitz zu bestrafen.
       
   IMG Bild: Angehörige des SS-Bewachungspersonals vor dem Frankfurter Schwurgericht 1963.
       
       Im Juli 2015, 70 Jahre nach der Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen,
       [1][hatte sich Oskar Gröning vor dem Landgericht Lüneburg zu verantworten.]
       Über viele Jahrzehnte lang war die Justiz in Sachen Auschwitz untätig
       geblieben. Die Ahndung des in Auschwitz verübten Menschheitsverbrechens ist
       alles andere als eine bundesdeutsche Erfolgsgeschichte.
       
       Der späte Prozess gegen einen altersschwachen Angeklagten lenkt freilich
       den Blick auf das Frankfurter Auschwitz-Urteil, das sich im August 2015 zum
       50. Mal jährt und notwendig auf die historisch und rechtlich zu
       beantwortende Frage, was Auschwitz war.
       
       Auf Befehl Himmlers errichtete die SS 1939/1940 Konzentrationslager in
       annektierten Gebieten des erweiterten Deutschen Reichs. Die Internierung
       von politischen Gegnern war das Ziel. In Polen verhafteten die deutschen
       Besatzer Menschen, die des Widerstands verdächtigt waren. Die Deutschen
       strebten die Dezimierung und Ausschaltung von Polens Elite an.
       
       Auschwitz diente seit Juni 1940 als Lager für inhaftierte Polen. Anfang
       1942, die systematische Vernichtung der Juden in den besetzten Gebieten der
       Sowjetunion hatte eingesetzt, begann der Auschwitzer Kommandant, Rudolf
       Höß, mit der Errichtung von Vernichtungsanlagen.
       
       Bereits im Herbst 1941 hatten er und seine Mörder Erfahrungen mit der
       Vernichtung von Menschen gesammelt. Sogenannte Probevergasungen mit Zyklon
       B wurden durchgeführt und ein Raum unmittelbar neben den Verbrennungsöfen
       als Gaskammer genutzt. Der Umbau von zwei Bauernhäusern in
       Vergasungsstätten sowie seit Mitte 1942 der Bau von vier Krematorien samt
       Gaskammern schufen ein Todeslager inmitten des KZ-Komplexes.
       
       ## Mord nach Dienstplan
       
       Im Unterschied zu den sogenannten reinen Vernichtungslagern der „Aktion
       Reinhardt“ in Treblinka, Sobibór und Bełżec und zum Gaswagenlager Chełmno
       im annektierten Warthegau, wurden Juden aus ganz Europa nach Auschwitz
       nicht allein zum Zweck ihrer sofortigen Vernichtung verbracht.
       
       Von den beiden Rampen in Auschwitz – die alte lag am Güterbahnhof, die neue
       ab Mai 1944 inmitten des Lagers Birkenau – gab es zwei Wege für die
       deportierten Juden: den direkten Weg ins Gas und den Weg zur Vernichtung
       durch Arbeit ins Lager.
       
       In tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht hatte der Tod in Auschwitz
       viele Gesichter. Lagerinsassen wurden erschlagen, erhängt, erschossen, im
       Häftlingskrankenbau „abgespritzt“. Sie starben den Hungertod im
       Lagergefängnis, fielen Selektionen im Krankenrevier, im Block sowie bei
       Appellen, beim Ein- und Ausmarsch ins beziehungsweise aus dem Lager zum
       Opfer.
       
       Die SS-Männer mordeten eigenmächtig oder auf Befehl. Es waren meist
       Einzeltötungen. Manchmal gingen die Opfer bei Selektionen in die Hunderte.
       Im Falle der mit Zügen der Deutschen Reichsbahn nach Auschwitz deportierten
       Juden handelten alle an der „Abwicklung“ von Transporten beteiligten
       SS-Leute nach Dienstplan, mithin auf Befehl.
       
       Da der Befehl, die angekommenen Juden entweder zu töten oder als
       „arbeitsfähig“ ins Lager einzuweisen, für alle Tatbeteiligten unschwer als
       verbrecherisch zu erkennen war, traf die gehorchenden Befehlsausführenden
       die Strafe des Teilnehmers (zum Beispiel des Tatgehilfen).
       
       ## Nur durch das Zusammenwirken lief die Todesmaschinerie
       
       Der ganze Vernichtungsapparat wurde bei „Transportabfertigungen“ in Gang
       gesetzt. Fernschreiben über die Ankunft von Todeszügen reichte die
       Kommandantur an die einzelnen Abteilungen weiter. Lastkraftwagen fuhren zur
       Rampe, um die Juden zu den Gaskammern zu transportieren.
       
       SS-Ärzte und Angehörige der Politischen Abteilung sowie der Lagerführung
       begaben sich zu den Zügen, um die Selektionskommission zu bilden.
       Mitglieder der Wachkompanien bildeten eine Postenkette. Ein
       Sanitätskraftwagen brachte Zyklon B zu den Gaskammern. Der mit einer
       Gasmaske ausgerüstete SS-Mann schüttete unter Aufsicht eines SS-Arztes das
       Giftgas in die Räume.
       
       Die Einzelakte eines jeden Akteurs standen in unmittelbaren Zusammenhang
       und stellten ein zusammenhängendes, einheitliches Tun dar. Nur durch das
       bewusste und gewollte Zusammenwirken aller SS-Angehörigen lief die
       Todesmaschinerie von Auschwitz reibungslos. Alle diensthabenden SS-Leute
       leisteten routiniert und geschäftsmäßig ihre Tatbeiträge zur Haupttat, zur
       Judenvernichtung.
       
       Das Frankfurter Schwurgericht war im Urteil vom August 1965 der Auffassung,
       den einzelnen Angeklagten müsse ihre Beteiligung an den
       Vernichtungsaktionen durch die zweifelsfreie Zurechnung von konkreten
       Einzeltaten nachgewiesen werden.
       
       So reichte es den Richtern nicht aus, dass ein SS-Arzt Rampendienst
       geleistet hatte. Die Zugehörigkeit zur Selektionskommission und somit die
       Anwesenheit auf der Rampe genügte ihnen nicht. Durch Zeugenaussagen musste
       zuverlässig und glaubhaft belegt sein, dass ein Angeklagter sich aktiv an
       den „Aussonderungen“ beteiligt hatte.
       
       Obschon im Sommer 1944 Tag und Nacht die Transporte mit Juden aus Ungarn
       eintrafen, in der Regel 3.000 Menschen in einem Todeszug, und obgleich die
       Personalknappheit in Auschwitz dazu führte, dass es auf die Mitwirkung
       eines jeden SS-Führers ankam, um die Transporte „abfertigen“ zu können,
       erachtete das Schwurgericht die funktionelle Mitwirkung der „SS-Mediziner“
       kraft der ihnen zugeteilten Aufgaben nicht als Schuldnachweis.
       
       ## Ermittlungsverfahren gegen „kleine Handlanger“ eingestellt
       
       Im Unterschied zur Auffassung des Gerichts waren der hessische
       Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und die Anklagevertretung der
       Rechtsauffassung, das Verbrechensgeschehen in Auschwitz sei als eine Tat im
       Rechtssinne zu betrachten. Wer an einer Funktionsstelle im
       Vernichtungsapparat tätig gewesen war, leistete auch ohne Nachweis eines
       konkreten Tatbeitrags zumindest Beihilfe.
       
       Die Konsequenz dieser vom Gericht und vom Bundesgerichtshof im Fall
       Auschwitz verworfenen Rechtsauffassung – im Fall der „reinen“
       Vernichtungslager Chełmno, Bełżec, Treblinka und Sobibór kam sie von
       Landgerichten in Bonn, München I, Düsseldorf und Hagen durchaus zur Geltung
       – wäre gewesen, Hunderte von SS-Leuten, die die Frankfurter
       Strafverfolgungsbehörde ermittelt hatte, als Verbrechensbeteiligte zur
       Rechenschaft zu ziehen.
       
       Das Auschwitz-Urteil hatte für die weitere Strafverfolgung von
       Auschwitz-Tätern verheerende Folgen. Die „Schuld- und Strafaussprüche“ für
       das medizinische Personal führten zum Beispiel dazu, dass die Frankfurter
       Staatsanwaltschaft im Jahr 1970 unter Verweis auf das „Maßstäbe“ setzende
       Auschwitz-Urteil die Einstellung von Ermittlungsverfahren gegen als „kleine
       Handlanger“ qualifizierte SS-Männer beantragte.
       
       Im Fall von 14 Angehörigen der Fahrbereitschaft, die Deportierte von der
       Rampe zu den Gaskammern gefahren hatten, vertrat die Staatsanwaltschaft die
       Auffassung, ihr Tatbeitrag und ihre Schuld seien im Vergleich zu den
       selektierenden SS-Führern auf der Rampe gering, von Strafe könne deshalb
       abgesehen werden.
       
       Die bundesdeutsche Justiz war nur in geringen Teilen willens, die
       NS-Verbrechen zu ahnden. Da der deutsche Gesetzgeber 1949 und in den
       folgenden Jahren darauf verzichtet hatte, Rechtsgrundlagen zu schaffen, die
       die tatangemessene Judizierung des Menschheitsverbrechens ermöglicht
       hätten, ist neben dem Versagen der Justiz auch das Versagen der Politik
       festzustellen.
       
       Die späten Verfahren gegen Greise, die sich wenig aussagewillig geben, sind
       das beschämende Indiz für eine unzureichende justizielle Aufarbeitung der
       NS-Vergangenheit.
       
       19 Aug 2015
       
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