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       # taz.de -- Blogger floh aus Bangladesch: Für eine Weile Freiheit
       
       > In seiner Heimat wurden vier kritische Netzaktivisten getötet. Auch
       > Ananya Azad wurde bedroht. Stiftung holte ihn nach Hamburg.
       
   IMG Bild: Aus seiner Heimatstadt Dhaka nach Hamburg geflohen: Ananya Azad.
       
       HAMBURG taz | Über Ananya Azads Alltag in Hamburg zu reden ist zumindest in
       einer Hinsicht nicht ganz leicht, denn es darf nicht in der Zeitung stehen,
       wo genau er lebt. Der 25-jährige Blogger aus der bangladeschischen
       Hauptstadt Dhaka ist vor islamischen Fundamentalisten aus seinem Heimatland
       geflohen. Er wurde mehrmals mit dem Tod bedroht - und nach Recherchen der
       Polizei in Bangladesch hat eine als aggressiv geltende Gruppierung
       angekündigt, nach Deutschland zu kommen, um ihn und zwei weitere hier
       lebende Blogger zu töten.
       
       Seit Anfang Juli ist er in Hamburg. Und zumindest so viel lässt sich sagen:
       Der Mietvertrag ist unterschrieben, ein Bankkonto eröffnet, und am Tag nach
       dem Interview kümmerte er sich um eine Krankenversicherung. Er hat bereits
       englischsprachige Panels bei einer Tagung der Journalistenorganisation
       Netzwerk Recherche besucht, war bei einer Veranstaltung über Nelson Mandela
       – und einen Vortrag über seine Situation hat er auch schon gehalten: im
       Hamburger Auswanderermuseum Ballinstadt.
       
       Das Land, das er zurückgelassen hat, steht im aktuellen
       Pressefreiheitsindex von Reporter ohne Grenzen auf dem 146. von 180
       Plätzen. Wer in Bangladesch etwas veröffentlicht, was die Herrschenden als
       „diffamierend“ empfinden, riskiert bis zu 14 Jahre Haft. „Wenn die
       Regierung will, dass die Polizei bestimmte Leute verhaftet, tut sie es“,
       sagt Azad. Regierung, Armee, Polizei – sie seien alle infiltriert von
       religiösen Fundamentalisten. Seinen Gegnern gelten er und andere kritische
       Blogger als „Atheisten“. Azad selbst betont, er sei keiner. Für viele
       religiöse Eiferer in Bangladesch ist bereits Atheist, wer die Trennung von
       Staat und Religion einfordert.
       
       Die Regierung bezeichne sich als säkular, aber davon könne keine Rede sein,
       sagt Azad. Schlimmer sei noch, dass die Regierung liberale Blogger nicht
       schützen will oder kann. Ende Februar wurde Avijit Roy, der Gründer des
       Blogs Mukto Mona (Freie Denker), am Rande einer Buchmesse in Dhaka
       ermordet. Roy lebte zuletzt in den USA, er war eigens für die Messe
       angereist.
       
       Auch Azad war auf der Buchmesse und fühlte sich bedroht. „Ein islamischer
       Fundamentalist hat mich derart massiv beschimpft, dass mein Verleger mich
       weggezogen hat“, sagt er. Azad präsentierte sein erstes Buch, in dem er die
       Rechtlosigkeit der Frauen in seinem Land anprangert. Der Titel lautet auf
       deutsch übersetzt „Keuschheit versus Polygamie“. Als er vom Anschlag
       erfuhr, raste Azad sofort ins Krankenhaus, denn Roy war ein Freund seiner
       Familie. „Aber als ich ankam, war er bereits tot“, sagt er.
       
       Nach dem Mord an Roy gab Azad einem unabhängigen TV-Sender ein Interview –
       gemeinsam mit einem Polizeivertreter. Normalerweise hätten bangladeschische
       Blogger Angst, im Fernsehen aufzutreten, auch liberale
       Universitätsprofessoren lehnten Interviewanfragen ab, sagt er. „Ich habe
       dort deutlich gemacht, dass mein Leben in Gefahr ist, aber Konsequenzen hat
       die Polizei daraus nicht gezogen.“
       
       Kurze Zeit später, im März, fiel der Online-Aktivist Washiqur Rahman Babu
       einem Mordanschlag zum Opfer, im Mai der nebenbei als Wissenschaftsautor
       und Blogger tätige Banker Ananta Bijov. Und Anfang August drang eine mit
       Macheten bewaffnete Gang in Dhaka in die Wohnung des Bloggers Niloy
       Chakrabarti ein, der als Niloy Neel schrieb, und brachte ihn um. Er war ein
       Freund von Azad.
       
       „Es ist ein klares Muster der Gewalt gegen Schriftsteller und Journalisten
       in Bangladesch zu erkennen, die einzig aufgrund ihrer friedlichen
       Meinungsäußerung zum Ziel von Mördern werden“, sagte Marian Botsford
       Fraser, die Vorsitzende des International Writers in Prison Committee der
       Schriftstelleroganisation PEN. Ananya Azad bekam nach dem dritten Mord in
       diesem Jahr eine Facebook-Nachricht: „Du bist der Nächste.“ Man werde
       seinen Kopf auf einer bekannten Statue in Dhaka aufspießen.
       
       36 islamische Gruppierungen gebe es in Bangladesch, sagt Azad. Besonders
       gefährlich sei die teilweise durch staatliche Gelder begünstigte
       Organisation Hefazat-e-Islam sowie das Ansarullah Bangla Team und ein auf
       dem indischen Subkontinent aktiver Al-Quaida-Ableger, die sich jeweils zu
       Morden an Oppositionellen bekannt haben.
       
       Bevor Azad in Hamburg ankam, habe er zwei Monate das Haus kaum verlassen,
       sagt er. Und wenn, dann nur mit Motorradhelm. „Den habe ich auch im Auto
       getragen.“ Zu Veranstaltungen an der Universität Dhaka, sagt er, ist er
       „überhaupt nicht mehr gegangen“. Azad hat einen Bachelor-Abschluss in
       Marketing, den Master-Studiengang musste er nun unterbrechen.
       
       Ein einziges Mal, sicherheitshalber nachts, machte er sich auf den Weg zur
       Uni – um sich abzumelden. Als er mit seinem Auto mit den getönten Scheiben
       dorthin fuhr, „verfolgten mich zwei Typen auf dem Fahrrad“. Am nächsten
       Morgen wollte er Zigaretten holen gehen. Da lungerten gleich vier
       verdächtige Gestalten an seinem Haus.
       
       Die politischen und religiösen Verhältnisse in Bangladesch, 90 Prozent der
       158 Millionen Einwohner sind Muslime, haben die deutschen Medien nicht auf
       dem Radar. In den Fokus gerät das Land nur, wenn es über Katastrophen zu
       berichten gilt. Etwa vor zwei Jahren, als in Sewar nahe Dhaka beim Einsturz
       eines neunstöckigen Geschäftsgebäudes, das vor allem Textilfirmen
       beherbergt hatte, 1.134 Menschen ums Leben kamen.
       
       Der Unfall warf wieder einmal die Frage auf, inwieweit jemand, der bei
       einem Klamottendiscounter für eine Handvoll Euro ein T-Shirt mit dem
       Etikett „Made in Bangladesh“ kauft, mitverantwortlich ist für die
       Produktionsbedingungen.
       
       Im Juni nahm die Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte, die sich durch
       Spenden finanziert, Kontakt mit Azad auf. Dann ging alles relativ schnell.
       „Ohne Martina wäre ich vielleicht schon tot“, sagt Azad und meint Martina
       Bäurle, die Geschäftsführerin der Stiftung, die in ihren Heimatländern
       bedrohten Autoren und Aktivisten ein einjähriges Stipendium in Hamburg
       finanziert. Seine Ausreise nach Deutschland sei ein Breaking-News-Thema in
       Bangladesch gewesen, sagt er und fügt halbwegs amüsiert hinzu: „Man konnte
       unter anderem lesen, dass ich von der deutschen Regierung bezahlt werde.“
       
       Zum ersten Mal mit Terror konfrontiert wurde Ananya Azad 2004, da war er
       zehn Jahre alt. Fundamentalisten stachen mit einem Messer auf ihn ein. Die
       Narben sind noch zu sehen. „Hier und hier“, sagt er und zeigt auf seine
       rechte Wange und die linke Seite seines Halses. Ein halbes Jahr zuvor war
       sein Vater, der Schriftsteller und Linguist Humayun Azad, der, wie heute
       sein Sohn, für Menschenrechte und Meinungsfreiheit kämpfte, bei einem
       Anschlag schwer verletzt worden. Azad Senior starb im August 2004.
       
       Nun sei seine Zeit gekommen, sagt Ananya Azad; er wolle fortführen, was
       sein Vater begonnen habe. In Hamburg hat er seinen Blog reaktiviert, zuvor
       hatte er monatelang nur bei Facebook veröffentlicht. In den nächsten
       Monaten will er unter anderem die deutsche Sprache lernen und sich mit der
       hiesigen Regierungspolitik der letzten fünf, zehn Jahre vertraut machen.
       
       Da habe er Wissenslücken, sagt Azad. Zudem stehen Veranstaltungen mit
       Reporter ohne Grenzen und Amnesty International an. Er hat viel zu tun,
       Nachfragen per Mail beantwortet er mal kurz nach Mitternacht, mal um sechs
       Uhr morgens.
       
       Eigentlich war es Azads Ziel, an der Universität Dhaka Marketing zu
       unterrichten. Doch was er in einem Jahr, wenn das Stipendium ausgelaufen
       sein wird, machen wird, kann er noch nicht sagen. Kehrte er nach
       Bangladesch zurück, wäre er dort sofort mit Problemen konfrontiert.
       Andererseits: „Ich vermisse mein Land, meine Mutter, meine Sprache.“
       
       Was Azad nicht vermisst, sind die schlechten Manieren vieler Landsleute.
       „Wenn man sich in Hamburg verläuft, reagieren die Menschen hilfsbereit und
       freundlich“, sagt er. „Das wäre in Dhaka nicht vorstellbar.“
       
       13 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR René Martens
       
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