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       # taz.de -- Theater am Mahnmal: Stein des Anstoßes
       
       > Das freie Theater „Cosmos Factory“ setzt sich mit der Geschichte des
       > Niedersachsensteins bei Worpswede auseinander. Ein mystischer Ort.
       
   IMG Bild: Erdrückt mitunter den Theaterabend: der gewichtige Niedersachsenstein.
       
       Bremen taz | Es war ein Jüngling, nackt, so an die drei Meter hoch, der
       Bernhard Hoetger zunächst vorschwebte, als es darum ging, ein Denkmal auf
       dem Weyerberg zu errichten, einer gerade mal knapp 55 Meter hohen
       Geestinsel im Teufelsmoor bei Worpswede.
       
       Die ursprüngliche Idee, dort eine Bismarck-Statue zu errichten, war nach
       dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zugunsten eines Siegesmals verworfen
       worden. Doch dann erschienen dem Bildhauer drei Meter wohl zu popelig und
       im Kopf des Künstlers wuchs der Knabe – auf sechs, sieben, acht Meter.
       
       Während Hoetger vor sich hin eskalierte, verlor Deutschland allerdings den
       Krieg – und der Bildhauer die Grundlage für ein Siegesmal. Dann eben ein
       Mahnmal für die Gefallenen. Für den Expressionisten schien das kein großes
       konzeptionelles Problem darzustellen – die Kunst stand seiner Ansicht nach
       ohnehin jenseits von Zweck und Absicht.
       
       Für manche Worpsweder aber, allen voran Fritz Mackensen, waren Hoetgers
       Ideen schwer vermittelbar. Nicht so sehr inhaltlich – Patrioten waren sie
       ja selbst. Nein, die expressionistische Form stieß ihnen auf, während
       andere Hoetgers Pläne gerade als „Ausdruck nordisch-germanischer kosmischer
       Schwingungen“ lobten.
       
       ## Stein des Anstoßes
       
       Der Heldenhain-Ausschuss stimmte dem Bau nach einigem Gerangel schließlich
       doch zu. Wohl auch, weil Hoetger beschlossen hat, das Ding auf eigene
       Kosten zu bauen. Dabei unterstützte ihn unter anderem der Bremer
       Unternehmer Ludwig Roselius, der mit der Böttcherstraße der Stadt Bremen
       später eine Touristenattraktion spendierte, die eine ähnlich wechselvolle
       Rezeptionsgeschichte nach sich zog wie der Niedersachsenstein.
       
       Eine gründliche Aufarbeitung der Geistesgeschichte des Letzteren ließ
       hingegen noch länger auf sich warten als bei der Böttcherstraße. Oliver
       Peuker und sein freies Worpsweder Theater „Cosmos Factory“ haben am
       Donnerstag mit der Premiere von „Niedersachsenstein – Inszenierung eines
       Monuments“ nun einen wichtigen öffentlichkeitswirksamen Schritt in dieser
       Sache unternommen.
       
       ## Kunstvoller Unterricht
       
       Zwar liegt der „Stein des Anstoßes“, wie ihn der Weser-Kurier unlängst
       nannte, ein wenig abgelegen in einem Wäldchen auf dem Weyerberg, dem
       Unternehmen aber ist sehr an Zugänglichkeit gelegen. Zum einen spielt man
       bei freiem Eintritt, zum anderen gibt es weder allein trockenen
       Geschichtsunterricht noch lediglich kunstvolle Abstraktion. Sondern beides
       nebeneinander.
       
       Im Licht der untergehenden Sonne erstrahlt der Niedersachsenstein, wabernde
       Elektronik umraunt die Szenerie, als eine elfenhafte junge Frau die Treppen
       zum Denkmal emporsteigt. Ein eifrig klingelnder Radler in Militäruniform
       strampelt durch die Zuschauerreihen heran, stellt die junge Frau und
       rekrutiert sie als Dolmetscherin.
       
       Durch ihren Mund erfährt das Publikum vom Erlass der britischen
       Militärregierung, dass die Länder Braunschweig, Hannover, Schaumburg und
       Oldenburg ab sofort zu existieren aufhören und stattdessen auf ihrer Fläche
       das Land Niedersachsen entstehe. Der erste Aufmerker: Denn der
       Niedersachsenstein, er stand längst da, als im November 1946 das
       gleichnamige Land ausgerufen wird.
       
       Und so ganz löst Peukers Inszenierung dieses Rätsel auch nicht auf. Wie
       auch anderes eher im Halbdunkel des einstündigen Abends verbleibt. Was
       nicht an mangelnder Recherche Peukers liegt. Der arbeitet schon seit Jahren
       mit wechselnden Künstlerinnen und Künstlern theatralisch in Worpswede.
       
       Er weiß deswegen auch zu berichten, dass zumindest in den letzten 15 Jahren
       keine Sommersonnwendfeiern von Nazis am Niedersachsenstein gefeiert wurden
       – auch so ein Gerücht, das sich hartnäckig hält.
       
       Als gesichert darf hingegen gelten, dass tatsächlich Flüchtlinge aus
       Ostpreußen eine Zeit lang die Katakomben unter dem Niedersachsenstein
       bewohnten. Wenngleich sie, anders als ihre Repräsentanz in Peukers Stück,
       natürlich keine Zeitreisen unternehmen konnten.
       
       Im Theater darf das natürlich sein, und so führt die junge Flüchtlingsfrau
       kreuz und quer durch die Historie des Denkmals, zurück in dessen
       Vorgeschichte, in die künstlerische Philosophie ihres Schöpfers, die, als
       es an der Zeit war, auch mit der Politik der NSDAP vereinbar war. Dachte
       zumindest Hoetger.
       
       Der „Führer“ hielt indes wenig von Hoetgers Expressionsmus. Am liebsten
       hätte er die Böttcherstraße, die in weiten Teilen von Hoetger gestaltet
       wurde, planiert. Und auch der Niedersachsenstein stand auf der Abrissliste.
       
       ## Rätselhafte Tänze
       
       Für den eher sachlichen, dokumentarischen Teil der Inszenierung leiht
       Mateng Pollkläsener Hoetger Körper und Stimme. Weniger deutlich dagegen die
       choreografischen Elemente, die die Tänzerin Citlali Huezo Sanchez
       beisteuert, zwischen Tempeltanz und zeitgenössischen Ausdrucksformen. Was
       sich als Umsetzung des Hoetger‘schen Synkretismus zwar verstehen lässt,
       aber darüber hinaus gelegentlich rätselhaft wirkt.
       
       Wie der Abend der mystischen Aufladung des Ortes immer wieder zu erliegen
       scheint, wenn Synthesizer-Flächen (Musik: Tom Horn) durch den Hain wabern,
       gelegentlich mit Flötentüll dekoriert, was wohl mit Hoetgers eigenwilligem
       Heidentum korrelieren soll. Und alles, was diesen Kitsch brechen könnte,
       scheint unter dem Gewicht dieses komischen Vogels zu zerstäuben, als den
       Hoetger sein Werk konzipiert hat.
       
       So stehen die wenigen leichten Momente, wie Peukers Einfahrt auf dem
       Fahrrad oder die Anekdote vom Obstklau in Mackensens Garten, etwas verloren
       unterm Worpsweder Himmel, derweil die sehr löbliche Tiefe der Recherche
       einem Hang zum Pathos gegenübersteht, dessen Distanz zu den ideologischen
       Untiefen der Geschichte nicht immer greifbar wird.
       
       ## Beeindruckendes Licht
       
       Was neben dem aufklärerischen Impetus allerdings dennoch ganz schlicht
       beeindruckt, sind die visuellen Effekte, die Lichtdesigner Holger Klede am
       Denkmal erschafft, im Sinne der Szene, aber auch als sehr eigenständigen
       Anteil. Präzise arbeitet er die Züge der Skulptur heraus, ihre dem Material
       (Ziegelstein) geschuldeten Konturen, aber auch das größere Körperliche,
       lässt die große Vogelgestalt pulsieren und sie zum Ende – vielleicht doch
       etwas plakativ – zu einer irren Fratze werden, während eine Stimme mit
       russischem Akzent dräut: „Wir werden eure Wandelbarkeit beobachten!“
       
       Eine Ambivalenz, die durchaus im Sinne der Theatermacher sein dürfte. Was
       den Niedersachsenstein angeht, bleibt für Peuker, der als radelnder Soldat
       auch selbst einen kurzen Auftritt im Stück hat, eindeutig vor allem eines:
       dass Kriegerdenkmäler wie der Niedersachsenstein nunmal Soldaten feiern –
       und mit Tucholsky gesprochen eben Mörder, wie Peuker formuliert. Wen sie
       umgebracht haben, interessiert nicht.
       
       16 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Schnell
       
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