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       # taz.de -- Oranienburg und die Flüchtlinge: Weniger Zäune, mehr Akzeptanz
       
       > Was ändert sich in den Kommunen, wenn die Flüchtlinge bleiben?
       > Oranienburgs Bürgermeister würde gern bauen – für alle.
       
   IMG Bild: Anders als auf dieser Aufnahme aus dem thüringischen Suhl sollen die Flüchtlinge in Lehnitz nicht neben, sondern mit den Einwohnern leben.
       
       Oranienburg taz | Die Gegend macht nicht viel her. Durch den hohen Zaun
       sieht man betonierte Straßen, gesäumt von DDR-Plattenbauten. Durch ein Tor
       kommen und gehen die Flüchtlinge, die hier in Oranienburg seit einem
       Dreivierteljahr wohnen. Im Hintergrund rauscht die S-Bahn Richtung Berliner
       Innenstadt. Auf den ersten Blick wirkt das einstige Kasernengelände im
       Brandenburgischen wie einer jener trostlosen Orte, an denen in diesen
       Monaten Menschen geparkt werden, die auf den Entscheid über ihr
       Asylverfahren warten. Aber das täuscht.
       
       Hans-Joachim Laesicke, Oranienburgs Bürgermeister, hat auf seinem
       Besprechungstisch ein großes Luftbild ausgerollt. „Hier“, sagt er und tippt
       mit dem Zeigefinger auf die Karte, „hier kämen die Sozialwohnungen hin.
       Dort könnte man noch weitere Flüchtlinge unterbringen.
       
       Und da rechts käme die Neubebauung hin.“ Schule, Sporthalle, Speisesaal,
       Sportplatz – es ist ja schon alles da, was ein neues Wohngebiet an
       Infrastruktur bräuchte. Fehlten nur noch die Wohnungen für alle: für die
       Flüchtlinge genauso wie für Einheimische und für Eigentümer. „Glauben Sie
       mir“, sagt Hans-Joachim Laesicke, „es ist der bessere Weg. Weniger Zäune,
       weniger Stacheldraht, das führt zu Akzeptanz.“
       
       Oranienburg ist eine Kreisstadt in Brandenburg. 42.000 Einwohner, begehrte
       Berlin-Nähe, acht Ortsteile. In einem davon, im beschaulichen Lehnitz,
       leben seit letztem Jahr 230 Flüchtlinge. Der Landkreis hat sie dort in der
       eilig sanierten ehemaligen Bundeswehr-Kaserne am Ortsausgang untergebracht.
       
       Die Flüchtlinge gehen in Lehnitz zum Arzt. Sie steigen dort in die S-Bahn.
       Sie baden im See. Ihretwegen – aber eben nicht nur – hat der Bürgermeister
       große Pläne. Laesicke möchte, dass in Lehnitz künftig eine neue soziale
       Mischung entsteht. „Aufwertung“ nennen Stadtplaner das. Flüchtlinge, Mieter
       und Häuslebauer sollen zusammenleben. „Das könnte ein Pilotprojekt werden,
       in dem Einheimische und Migranten gemeinsam leben und eine Ausgrenzung von
       Flüchtlingen vermieden wird“, schwärmt er.
       
       ## Mehr Infrastruktur, mehr soziale Kommunikation
       
       Dafür will er neben der Flüchtlingsunterkunft eine Fläche für Eigenheime
       ausweisen. Und dass fünf der Wohnblöcke, in denen früher die Soldaten
       untergebracht waren, zu Sozialwohnungen umgebaut werden. Am Ende sollen
       alle LehnitzerInnen etwas davon haben.
       
       Laesicke ist unbescheiden, ja. Aber was er fordert, beruht auf seinen
       Erfahrungen. Als Bürgermeister weiß er, dass es nicht reicht, Neubürger
       einfach kommen zu lassen und dann mal zu schauen. Sondern dass mehr
       Menschen auch mehr Infrastruktur und deutlich mehr soziale Kommunikation
       brauchen. Und dass das geplant werden muss.
       
       Denn dies ist die nächste große Herausforderung für alle Kommunen: Sie
       müssen Flüchtlinge nicht nur sicher unterbringen, sondern sie auch mit
       allem versorgen, worauf Bürger Anspruch haben. Kitas und Schulen, Ärzte und
       Supermärkte, Verwaltung und Beratung. In diesen Tagen, da Flüchtlinge in
       Traglufthallen kampieren, mögen ein paar Quadratmeter für jeden das
       Wichtigste sein. Doch Minimalversorgung reicht auf Dauer nicht. Ohne
       ausreichend Infrastruktur sind Verteilungskämpfe programmiert.
       
       Schon jetzt fordern der Mieterbund und Pro Asyl mehr Geld für den sozialen
       Wohnungsbau. Seit der Wiedervereinigung vor 25 Jahren hat sich die Zahl der
       Sozialwohnungen von fast vier Millionen auf anderthalb Millionen
       verringert. Nun, da weitere Bedürftige neu hinzukommen, tritt der Mangel
       deutlich zutage. Es drohe eine Konkurrenz von Menschen mit niedrigem
       Einkommen und Flüchtlingen um bezahlbare Wohnungen, warnt
       Mieterbund-Direktor Lukas Siebenkotten. „Das darf aber auf keinen Fall
       passieren.“
       
       ## Integrierte Stadtentwicklungskonzepte
       
       Auch Hans-Joachim Laesicke will das verhindern. Seit 1993 ist er
       Bürgermeister in Oranienburg, auch damals hat die Stadt Flüchtlinge
       aufgenommen: 1.000 Russlanddeutsche und 250 sogenannte
       Kontingentflüchtlinge jüdischer Herkunft. Damals waren seine Bürger alles
       andere als erfreut. Es gab Konflikte zwischen den Neuen und den
       Alteingesessenen, vor allem im Plattenbaugebiet, wo die meisten Zugezogenen
       wohnten. „Mittelstadt“ nennt Laesicke das Viertel, „Ghetto“ sagen manche
       Oranienburger. Damals liefen Kinder aus dem Ruder, ihre Eltern hatten
       Probleme, sich im neuen Land zurechtzufinden. Der Stadtteil drohte zu
       kippen. Laesickes Verwaltung musste handeln.
       
       Insek, Integrierte Stadtentwicklungskonzepte, hieß damals das Zauberwort.
       Und „Zukunft im Stadtteil“ hieß das EU-Förderprogramm, für das sich
       Oranienburg erfolgreich bewarb. Millionen wurden verbaut: für Spielplätze,
       eine Skaterbahn, Grünflächen. Den Leuten wurde ein gutes Umfeld geschaffen,
       mitten im Wohngebiet wurde ein Bürgerzentrum eröffnet – bis heute ist es
       der soziale Mittelpunkt.
       
       So etwas will Laesicke jetzt wieder, diesmal in Lehnitz: Integration statt
       Trennung.
       
       Die Sache hat nur zwei Haken. Das Kasernengelände gehört der Bima, der
       Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Und die Stadt Oranienburg hat nicht
       das Geld, um das Land zu kaufen und dort zu bauen. Der Landkreis müsste
       kaufen, Immobilienträger müssten bauen.
       
       Aber in der Kreisverwaltung ist man gerade vollauf damit beschäftigt, die
       täglich neu eintreffenden Flüchtlinge unterzubringen. Monat um Monat wird
       deren Zahl nach oben korrigiert; die Bürgermeister des Landkreises werden
       verdonnert, Leerstände und Bauflächen zu melden. Aber leere Wohnungen gibt
       es hier nicht. Und Neubauten bräuchten viel zu viel Zeit. Schon wird über
       Containerunterkünfte nachgedacht. Noch im April war in der Lokalzeitung von
       400 weiteren Flüchtlingen für Lehnitz zu lesen. Planung ist kaum möglich,
       es geht um Menschen, nicht um Stückzahlen.
       
       ## Wutbürger und NPD
       
       Die Willkommens-Initiativen vor Ort haben alle Hände voll zu tun, um das
       neue Miteinander zu organisieren. Die Kreisverwaltung muss sich permanent
       neuen Herausforderungen stellen. Derweil stacheln die Wutbürger und die NPD
       die fremdenfeindliche Stimmung an. „Ein paar Ochsen gibt es immer“, sagt
       Laesicke dazu.
       
       In all der Hektik scheint es völlig utopisch, wenn der Bürgermeister über
       langfristige Stadtplanung spricht. Und doch bewegt sich etwas. Tatsächlich
       verhandelt die Kreisverwaltung mit der Bima über den Kauf des
       Kasernengeländes. Eine sehr komplexe, vertrackte Angelegenheit. Der
       Sprecher des Landkreises sagt auf Anfrage, man wolle sich zu den laufenden
       Verhandlungen nicht äußern. Zudem sei man bekanntlich vollauf damit
       befasst, die Unterbringung der Flüchtlinge zu organisieren. Allein in
       diesem Jahr wurde deren Zahl schon drei Mal nach oben korrigiert. Ende Juni
       wurde die Zahl der Flüchtlinge für den Landkreis mit 1.085 beziffert; in
       der Verwaltung wird zeitnah mit der vierten Erhöhung gerechnet.
       
       Das klingt nicht danach, als könnte aus dem Projekt des Oranienburger
       Bürgermeisters etwas werden. Eher so, als könnte die Kreisverwaltung das
       Bima-Gelände gerade sehr gut für weitere Flüchtlingsunterkünfte brauchen.
       
       ## „Schäumende Briefe“
       
       Laesicke aber bleibt optimistisch. „Als guter Demokrat kenne ich keine
       Denkverbote.“ Wenn immer nur über Geld geredet werde, falle die wichtigste
       Frage hinten runter: nämlich, was mit der Gesellschaft insgesamt passiere.
       Für seine Idee vom integrierenden Stadtteil hat er nicht nur Kritik von den
       üblichen rechten Sozialneidern abbekommen, erzählt er. Er habe auch Post
       von honorigen LehnitzerInnen erhalten. ProfessorInnen, JuristInnen,
       VolkswirtInnen hätten ihm „schäumende Briefe“ geschickt, in denen die sich
       beschwerten, dass ihre teuren Häuser und Grundstücke durch die
       Flüchtlingsunterkunft im Ort entwertet würden. Laesicke lächelt. Das Thema
       Flüchtlinge bleibe nun mal, sagt er, da würden Abwehrreflexe nicht
       weiterhelfen.
       
       Und dann erzählt er, wie er neulich durch die Stadt geradelt ist. „Hallo,
       Herr Laesicke“, habe ihm eine junge Frau quer über die Straße zugerufen.
       „Ich bin’s, die Natascha! Erinnern Sie sich nicht? Ich habe früher im
       russischen Chor gesungen.“ Laesicke konnte sich nicht erinnern. Aber er hat
       sich wirklich sehr gefreut.
       
       19 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anja Maier
       
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