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       # taz.de -- Filmfestival von Locarno: Klebrige, fettige Eskalation der Gewalt
       
       > Beim Versuch, dem PR-Chef von Warner Brothers die Zähne auszuschlagen,
       > brach sich der Regisseur Sam Peckinpah die Hand. Eine Retrospektive.
       
   IMG Bild: Keine Sieger. Keine Verlierer. Nur Tote. Hier eine Szene aus „Sacramento“ (1962) von Sam Peckinpah
       
       Manchmal würde man gerne die Reset-Taste drücken, um sich einem filmischen
       Oeuvre neu und in aller Unschuld zu stellen. Warum nicht schauen, was uns
       das Werk heute zu erzählen hat, welche Geschichten von einst noch heutig
       sind? Das hieße, einen Film einfach als Film zu nehmen. Und etwa einen
       Regisseur wie Sam Peckinpah (1925–1984) nicht umgehend auf seine Bedeutung
       als Auteur im Genrekino zu untersuchen.
       
       In der filmhistorischen Literatur steht Peckinpah für die große
       Americana-Vision, die er in seinen Western entwarf. Für ein düsteres
       Leitmotiv – eine Handvoll Männer bei ihrer Reise ohne Wiederkehr –, dem er
       auch in Kriegsfilmen oder Thrillern treu blieb. Und für einen
       schonungslosen Blick: „Ich halte den unerfreulichen und oft widerwärtigen
       Anblick des Lebens für heilsam.“
       
       „Straw Dogs – Wer die Gewalt sät“ ist der Titel eines Films von 1971, und
       im Rückblick erscheint der Regisseur, der den Set mit Cowboystiefeln,
       Stetson, verspiegelter Sonnenbrille und einem geladenen Revolver betrat,
       selbst wie ein streunender Hund in Hollywood, der die Gewalt auf der
       Leinwand säte.
       
       Und es sind ja auch die Bilder einer unvermittelten, geradezu physisch
       erfahrbaren Brutalität, mit denen sich seine Filme, die beim am Mittwoch
       beginnenden Filmfestival im schweizerischen Locarno neu zu entdecken sind,
       ins Gedächtnis brennen: Körper, aus denen im Zeitlupentempo das Leben
       weicht, faustgroße Einschusslöcher in Bäuchen und Rücken, Blut, das in
       Fontänen aus zerfetzten Leibern spritzt. „The impact of screaming bullets“
       lautet ein Slogan für seinen zweiten Film „Sacramento“ (1962). Diese Kugeln
       schreien ohrenbetäubend, wenn sich Dustin Hoffmans unbedarfter Mathematiker
       in „Straw Dogs“ in eine Killermaschine verwandelt.
       
       ## Grausamkeit und Gewaltpornografie
       
       Filmgeschichte haben auch die sadistischen Kinderspiele zu Beginn von „The
       Wild Bunch“ (1969) geschrieben: In Großaufnahme fängt die Kamera das
       unschuldige Lachen der Jungen und Mädchen ein, schneidet dann abrupt auf
       das, was sie anrichten. Mit Stöckchen rollen sie Skorpione auf den Rücken,
       damit rote Ameisen über sie herfallen können. Später lassen sie die
       krabbelnde Tierwelt in Flammen aufgehen. Die Szene ist eine Ouvertüre für
       all das, was sich in den kommenden zwei Stunden auf der Leinwand entladen
       wird.
       
       Bis heute tobt eine Debatte um „The Wild Bunch“. Die einen feiern ihn als
       blutige Ballade und Abgesang auf Amerika, so wie die New York Times, die zu
       seiner Premiere schrieb: „Eine passende Antwort auf die Italo-Western, weil
       er deren Grausamkeit mit Hollywood-Perfektion zu verbinden weiß.“ Andere
       werfen ihm Zynismus, Machismo, die Ästhetisierung des Sterbens und
       Gewaltpornografie vor.
       
       So weit, so gut. Aber vielleicht kommt man Peckinpahs Kino auf andere Weise
       näher, wenn man sich auf die Assoziationen einlässt, die seine Bilder
       auslösen. Etwa die gewaltige Eröffnungssequenz von „The Wild Bunch“. Das
       Westernstädtchen wird zu einem zeitlosen Ort. Im Spiel geben die Kinder die
       Gewalt weiter, mit der sie aufwachsen sind. Und plötzlich sind der Irak und
       Syrien einem Ende der sechziger Jahre in der texanischen Einöde gedrehten
       Western genauso nahe wie Vietnam.
       
       ## Kleine blöde Kontingenz eines Sandhaufens
       
       Schon reiten Pike Bischop (William Holden) und seine Bande über die
       Hauptstraße ein. Sie wollen eine Eisenbahngesellschaft überfallen und
       geraten in einen Hinterhalt von Kopfgeldjägern, die Stellung auf dem
       gegenüberliegenden Dach bezogen haben. Der Gottesdienst ist gerade zu Ende
       gegangen, und ein Prozessionszug bildet sich. Diese unbeteiligten Menschen
       nehmen nun die Bildmitte ein. Sie behindern die Sicht, sind im Weg, dennoch
       greifen die Kopfgeldjäger die Banditen an.
       
       Das Geschrei der Menschen vermischt sich mit dem Geräusch der Projektile.
       In Zeitlupe wird das letzte Zucken von Sterbenden festgehalten. Plötzlich
       verharrt die Kamera auf einem Jungen und einem Mädchen, die sich umklammern
       – und nimmt ihre Perspektive ein. Bei Peckinpah wird klar, was ein
       sogenannter Kollateralschaden ist. Dass es Opfer gibt, die weder zur einen
       noch zur anderen Seite gehören. Und dass es kein Wegschauen, kein Entkommen
       gibt. Auch und erst recht nicht für Kinder.
       
       Ein banaler Sandhaufen wird Pike Bischops Pferd in „The Wild Bunch“ zum
       Straucheln bringen. Unter dem höhnischen Gelächter seiner Mannen versucht
       er, wieder in den Sattel zu steigen. Man kann das als Dekonstruktion der
       heroisierenden Mechanismen des Western-Genres lesen. Aber es bleibt auch
       einfach ein Sandhaufen, der seine kleine blöde Kontingenz in den Weg eines
       Mannes legt, der der Gewalt müde ist.
       
       Wie eine Todeslandschaft sieht der Westen bei Peckinpah aus. In seinen
       Panoramen blicken die Männer nicht in eine Weite, die neue Horizonte
       eröffnet. Mit ihren müden Gäulen, verschmutzten Klamotten, zerkratzten
       Waffen wirken sie verloren in einer Umgebung, in der sie nichts zu suchen
       haben. Obwohl sie das auch zu ahnen scheinen, ziehen und schießen sie doch
       weiter, reißen auch andere mit in den Tod. Bis heute.
       
       ## Physisch ins Hier und Jetzt gerammt
       
       Peckinpahs Filme können nur so zeitlos sein, weil sie gleichzeitig so
       konkret sind, physisch ins Hier und Jetzt gerammt. In „The Wild Bunch“ gibt
       es immer wieder dokumentarisch wirkende Szenen und Details, die auf eine
       Leerstelle verweisen. Das Alltägliche fehlt im Western meistens, bei
       Peckinpah hat es Platz: eine stillende Indio-Frau, die Feste der
       mexikanischen Bevölkerung, Brillen tragende Western-Helden.
       
       In „Abgerechnet wird zum Schluss“ (1970) eröffnet die Hauptfigur Cable
       Hogue mitten in der Wüste eine Art Pionierraststätte und Pferdetränke.
       Besucht wird sie aber von den ersten Automobilen, deren Fahrer Benzin
       verlangen, das Hogue nicht hat. In „The Getaway“ (1972) bewerfen sich die
       Insassen eines Autos mit Rippchen, es ist eine klebrige, fettige Eskalation
       der Gewalt. Und wohl niemand wird das Müllauto vergessen, in dem sich das
       von Steve McQueen und Ali McGraw gespielte Gangsterpaar am Ende des Films
       versteckt. Ihre Flucht führt mitten in den stinkenden Abfall einer auch
       innerlich verrotteten und vermüllten Gesellschaft.
       
       Letztlich sind alle Filme Peckinpahs Fluchtbewegungen, egal welchem Genre
       sie angehören. Fluchten nach vorne, die in den Tod, den Abgrund, in brutale
       Showdowns führen. Man könnte von einem geradezu neurotischen
       Wiederholungszwang sprechen, der sich in einer pervertierten Form Ausdruck
       verschafft. „Ich möchte das Publikum mit der Nase auf die Gewalt in der
       Welt stoßen“, hat Peckinpah einmal gesagt.
       
       Und vielleicht braucht es diese Totentänze, Blutorgien,
       Gewaltchoreografien, um zu verstehen, was er uns auf ehrliche Weise und
       ohne jedes symbolische Tamtam mitteilen will: Dass es in der Welt, so wie
       sie ist, keine Sieger und keine Verlierer gibt, sondern Tote und bald noch
       mehr Tote.
       
       ## Exzentrisches Neurosenmonster
       
       Das ist keine schöne Botschaft, und sie kann den, der sie überbringt, nicht
       befriedigen. Dieses Gefühl der Aussichtslosigkeit überführt Peckinpah am
       Ende von „The Wild Bunch“ und von „Pat Garett jagt Billy the Kid“ in
       absurde Spiegelfechtereien. Die Helden schießen auf ihr eigenes Bild im
       Spiegel.
       
       Wen wundert es, dass der Schöpfer dieses Werks kein einfacher Regisseur
       war, ein exzentrisches Neurosenmonster, das in den Drehpausen mit
       Wurfmessern trainierte und dabei einen Produzenten nur um Haaresbreite
       verfehlte. Beim Versuch, dem PR-Chef von Warner Brothers die Zähne
       auszuschlagen, brach sich Peckinpah die Hand, im Kokswahn schlief er neben
       einer geladenen Schrotflinte, seine Schauspieler beschimpfte er als
       ignorante Schwanzlutscher. Steve McQueen wehrte sich, indem er versuchte,
       ihm mit einer Flasche Champagner den Schädel einzuschlagen.
       
       Ein Gutteil von Peckinpahs Wut mag auch damit zusammenhängen, dass seine
       Angst und Schrecken hinterlassenden Filme immer wieder gekürzt,
       umgeschnitten, verstümmelt wurden. Zum Glück ist immer noch genug übrig.
       
       5 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anke Leweke
       
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