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       # taz.de -- US-Musikmarkt bricht ein: Klassik bald nur noch im Konzert?
       
       > Die Klassikbranche in den USA liegt darnieder, wie aktuelle
       > Verkaufszahlen zeigen. Auch der Markt in Deutschland schwächelt.
       
   IMG Bild: Krise macht erfinderisch: Die Berliner Philharmoniker veröffentlichen inzwischen auf ihrem eigenen Label.
       
       298 Stück. So lauten die US-amerikanischen Verkaufszahlen für das Album
       „Benedicta: Marian Chant from Norcia“, gesungen von den Benediktinermönchen
       des italienischen Städtchens Norcia. Das klingt erst einmal nicht groß
       verwunderlich, nicht jede Einspielung mit gregorianischen Gesängen wird
       zwangsläufig zum Verkaufshit.
       
       Irritierend ist an der Zahl allerdings, dass es sich bei „Benedicta“ um das
       aktuell in den USA am häufigsten verkaufte Klassikalbum überhaupt handelt,
       so die Statistik von Nielsen Soundscan, einem Programm, das die Verkäufe
       von Tonträgern – digital wie physisch – erfasst und wöchentlich
       präsentiert.
       
       An zweiter Stelle folgt nach den gesegneten Gesängen aus Norcia demnach der
       Tenor Andrea Bocelli mit „Opera: The Ultimate Collection“ mit immerhin über
       200 Stück. Unter den Top Ten war zudem keine einzige Neuerscheinung. Das
       sind keine schönen Nachrichten für die Klassikbranche, die sich mehr und
       mehr zum Nischenmarkt entwickelt.
       
       Im Juni hatten die Mönchsgesänge aus Norcia immerhin noch über 3.000 Käufer
       gefunden, doch schon auf den Plätzen zwei und drei wurden gerade einmal um
       rund 300 Stück verzeichnet. Die Zahlen veröffentlichte der englische
       [1][BBC-Journalist Norman Lebrecht auf seiner Internetseite Slipped disc],
       auf der er regelmäßig aus der Klassikwelt berichtet. „The US market is
       kaputt“, hatte er im Juni kommentiert. Am Mittwoch lautete sein
       fassungsloses Fazit, dass der Klassikmarkt „fast ausgelöscht“ sei.
       
       ## Zahlen nähren Zweifel an der Zukunft
       
       Lebrechts verallgemeinerte dramatische Einschätzung ist insofern
       zutreffend, als die Einbrüche nicht bloß den US-amerikanischen Markt
       betreffen. Auch in Deutschland sind die Verkaufszahlen rückläufig.
       
       Aktuelle Vergleichswerte aus diesem Jahr liegen zwar nicht vor, doch der
       vom Bundesverband Musikindustrie vorgelegte Jahresbericht für 2014
       registriert einen Rückgang der Verkäufe gegenüber dem Vorjahr um gut 12
       Prozent: Betrug der Umsatz in der Klassikbranche 2013 noch 90 Millionen
       Euro, waren es ein Jahr später bloß noch 79 Millionen. Der Downloadanteil
       lag bei der Klassik in beiden Jahren konstant bei 5 Prozent.
       
       Die Zahlen nähren Zweifel, ob sich die Klassikabteilungen der verbliebenen
       drei Musikkonzerne Sony, Warner und Universal und der unabhängigen Labels
       mittelfristig werden halten können. Die Produktionskosten sind,
       insbesondere bei Orchesterwerken, in der Regel weit höher als bei Pop-Bands
       oder Jazz-Ensembles, von elektronischen Heimstudioaufnahmen ganz zu
       schweigen. Insofern könnte die bei Orchestereinspielungen längst vorhandene
       Neigung zu Live-Mitschnitten die Studioaufnahmen irgendwann komplett
       verdrängen.
       
       Einzelne Orchester wie die Berliner Philharmoniker gehen, von der Krise
       unbeeindruckt, Schritte in die Unabhängigkeit und veröffentlichen
       inzwischen auf ihrem eigenen Label. Vor Kurzem erschien bei den „Berliner
       Philharmoniker Recordings“ als bisher zweite Veröffentlichung eine Box mit
       Orchesterwerken von Schubert, dirigiert von Nikolaus Harnoncourt. Ob diese
       Entwicklung Schule machen wird und ob sie als Strategie gegen die
       Verkaufsprobleme hilft, lässt sich noch nicht absehen.
       
       Gut möglich, dass es klassische Musik eines Tages nur noch dort zu hören
       gibt, wo man sie – sofern die Akustik und die musikalischen Fähigkeiten der
       Interpreten stimmen – immer noch am besten rezipieren kann: im
       herkömmlichen Konzertsaal. Was, für sich genommen, gar nicht mal schlimm
       wäre. Ganz so weit ist es aber wohl noch nicht.
       
       7 Aug 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://slippedisc.com/2015/08/no-classical-record-sold-300-us-copies-last-week/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tim Caspar Boehme
       
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