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       # taz.de -- Warum Sail: Wo der Weltgeist anlegt
       
       > Sail, da wird Bremerhaven zur Hölle, oder? Von wegen: Echte
       > Hardcore-Bremerhavener messen nicht in Jahren, wie die Zeit vergeht,
       > sondern in – Sails.
       
   IMG Bild: Viele Segel und noch mehr Menschen: Am Mittwoch beginnt in Bremerhaven die Sail.
       
       BREMERHAVEN taz | Erst war Milu irritiert, dann verzaubert. Ein magisches
       Theater von Fischbrat- und Bierbuden tat sich vor uns auf, die hellen
       Lichterketten brannten uns in den Augen, die blauen Jungs sangen, als
       stünde der Schiffbruch kurz bevor. Segelboot an Segelboot reihte sich an
       der Kaje auf, davor vergnügten sich die Massen. Milu nippte an ihrem
       Beck‘s, die blauen Jungs steigerten sich zur Ekstase, eine leichte Brise
       kam über den Deich zum Neuen Hafen herübergeweht. Es war Sail 2005 und wir
       waren verliebt.
       
       Einer Außenstehenden wie Milu zu erklären, was dieses maritim-bürgerliche
       Mega-Event für eine Bedeutung für die Ansässigen hat, war und ist nicht
       leicht. Sail ist die Vergewisserung, dass man in einer globalisierten,
       postfordistischen und -modernistischen Welt, nach dem Niedergang der
       Fischerei und eines beträchtlichen Teils des traditionellen Schiffsbaus,
       noch immer Hafenstadt, Weltstadt, Stadt am Meer ist.
       
       Dass man den Hafen einst nicht für Hobbyskipper ausgehoben hat, die ihren
       getunten Nussschalen Namen wie „Sabine“, „Baracuda 3000“ oder „Lord John“
       geben. Sondern für wirkliche Schiffe, Schiffe mit turmhohen Masten,
       Takelage und mehreren Metern Tiefgang. Schiffe für Seebären und ihre
       Bräute, Schiffe, die man „Sedov“, „Statsraad Lehmkuhl“, „Dar Mlodziezy“
       oder „Alexander von Humboldt“ tauft.
       
       Für echte Bremerhavener misst sich ein Leben nicht in Jahren, sondern in
       Sails. Mehr oder weniger alle fünf Jahre gibt es eine, seltener als eine
       Fußball-WM oder eine Bundestagswahl. In fünf Jahren hat Napoleon halb
       Europa unterworfen, in weiteren fünf wieder verspielt. Fünf Jahre sind eine
       verdammt lange Zeit.
       
       Die Vorfreude auf die immer nächste manifestiert sich in einem riesigen
       dreidimensionalen Sail-Schriftzug, der einen auf dem Weg zum Shopping in
       der Innenstadt schmerzlich daran erinnert, wie viele Jahre noch auszuharren
       sind – oder schlimmer noch: daran, dass die nächste Sail bald losgeht und
       dann schon wieder bald vorbei sein wird, dass also wieder fünf Jahre ohne
       Sail kurz bevorstehen.
       
       Als kleines Kind saß ich 1986 am Deich und bewunderte die vielen tollen
       Schiffe während der großen Parade auf der Weser. 1990, 1992 und 1995 wurde
       Sail zum Ritual. Ab dann alle 5 Jahre (plus eine kleine Sail) zum lokalen
       Herzschrittmacher. Neben der Parade und dem Höhenfeuerwerk haben
       Bundeskanzler und Bundespräsidenten sie zum Staatsakt gemacht.
       
       Es spielen viele schlechte Bands, es gibt viel schlechtes Essen, man sieht
       viele schlecht angezogene Touristen und Einheimische. Aber wir alle, meine
       Freunde und ich, wir geborenen Bremerhavener, wir kommen alle immer zurück
       und bringen unsere Liebsten mit. Weil die Sail uns trotz allem verbindet,
       weil sie Teil unserer Bremerhavener DNA ist, weil die Schiffe großartig
       sind, die Matrosen sexy, stolz und gepflegt in ihren Uniformen durch die
       Fussgängerzone laufen, als wäre es 1955 und Bremerhaven noch immer ein
       aufregender Kulminationspunkt des Weltgeistes.
       
       Mein größtes Sail-Erlebnis ging aber so: Unser Nachbar, der
       Experimental-Musiker Jens Carstensen, hat zur Sail den maritimen
       Feelgood-Terror empfindlich gestört und mit einer anarchischen,
       ohrenbetäubend lauten Schiffstyphon-Installation (wie hat er die Mittel
       dafür bekommen?!) Touristen und Affen im nahen Zoo am Meer in den Wahnsinn
       getrieben: Horror auf den Gesichtern der Rentner, Panik auf jenen der
       Schimpansen – und das alles unter dem Deckmantel der Tourismusförderung.
       Man muss den Kapitalismus halt mit seinen eigenen Mitteln schlagen.
       
       Ich stand mit Milu vor dem Typhon-Turm. Wir kamen gerade aus Berlin, wir
       dachten, wir wären wild, wir dachten, das Berghain und der Berliner Beton,
       das sei der Gipfel der Dissidenz, wir dachten, wir wären hart und laut. Der
       Typhon-Turm war härter, er war lauter. Er trieb uns Tränen ins Gesicht,
       aber es waren Tränen der Freude. Ich nahm Milu in den Arm, wir schlenderten
       den Deich entlang, immer weiter in der Ferne dröhnten die Typhone.
       
       Auf der Außenweser blähten sich die Segel im Wind. Die Sonne schien, wir
       blinzelten Richtung Meer. Es war einer dieser Bremerhavener Momente
       zwischen Höllenfahrt und Erhabenheit. Es war Sail und wir waren verliebt.
       
       12 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ruben Donsbach
       
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