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       # taz.de -- Buch über bayerische Korruption: Schlötterers Enthüllungen
       
       > Die Kultur der Macht um Franz Josef Strauß hat Wilhelm Schlötterer
       > minutiös entlarvt. Warum haben seine Erkenntnisse keine Folgen?
       
   IMG Bild: Der Geist des Vaters aller Bayern ist noch immer quicklebendig.
       
       ## I.
       
       In seinem Buch „Macht und Mißbrauch“ schilderte der Jurist und ehemalige
       Ministerialrat Wilhelm Schlötterer seine Erfahrungen als Beamter des
       bayerischen Finanzministeriums, der sich weigerte, Schützlinge des
       CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß von der Steuer zu befreien. Er wurde
       mit Disziplinarverfahren und Strafanträgen verfolgt, erlebte
       Nichtbeförderung, Umsetzung, Isolation sowie (seltene, wichtige)
       Solidarität. Hauptthema des Buches ist jedoch die seit Strauß in der
       bayerischen Regierung wuchernde Korruption.
       
       Interessant: Keiner der genannten CSU-Politiker, Spitzenbeamten und
       Großunternehmer klagte gegen das Buch. Sie schwiegen, als existierte es
       nicht. Auch die Presse griff den Komplex nicht auf. Man diskutierte zwar
       über Zivilcourage: etwa unter dem Aspekt, ob einer sich zur Rettung der
       Zivilisation von minderjährigen Delinquenten zusammenschlagen lassen soll.
       Und man gruselte sich über den korrupten Berlusconi. Doch für Strauß sollte
       die Sprachregelung „umstritten“ reichen.
       
       Dabei stand das Buch auf der Spiegel-Bestsellerliste mit 96.000 Käufern.
       Die Leute lasen und waren entsetzt, doch was kann ein entsetzter Leser zu
       Hause tun? Er rauft sich die Haare. Weiter geschah nichts.
       
       ## II.
       
       Strauß’ politischen Erben fehlte des Paten enorme kriminelle Energie, doch
       seine Praxis, Großunternehmern illegal Steuervorteile oder Schutz vor
       Strafverfolgung zu gewähren, setzten sie fort. Einzelne Steuer- und
       Kriminalbeamte sowie Staatsanwälte, die sich widersetzten, wurden
       behindert, von den Fällen abgezogen, beruflich diskriminiert, mit
       Disziplinar- und Strafverfahren eingeschüchtert, pathologisiert; ein
       leitender Oberstaatsanwalt kam ungeklärt zu Tode.
       
       Nur eines war neu: Zeugen der vergangenen und aktuellen Korruption wandten
       sich jetzt an Wilhelm Schlötterer, der darüber sein zweites Buch schrieb:
       „Wahn und Willkür“ (2013).
       
       Es hat alle Tugenden des ersten: den schlanken Stil, die Konzentration und
       Schlüssigkeit, den trockenen Witz. Es besticht durch klare Darstellung,
       juristische Kompetenz und moralisches Temperament. Inzwischen waren
       Untersuchungen in Gang gekommen, bei Einzelfällen wie dem des
       psychiatrisierten Gustl Mollath stieg auch die Presse ein. Die
       Justizministerin geriet ins Zwielicht. Die Öffentlichkeit erzwang
       Untersuchungsausschüsse und Wiederaufnahmeverfahren. Schlötterer erweist
       sich als exquisiter Berichterstatter, da er juristische Manöver durchschaut
       und als Kenner ministerialer Dienstwege die politische Einflussnahme
       herausarbeiten kann. Er deckt Verfahrensfehler auf und analysiert die
       Sprache der Vertuschung, die unnahbaren Amtsspracheformeln, Widersprüche,
       das Ignorieren, Bagatellisieren: mit feinem Besteck, das hat sogar
       literarischen Reiz. Er benennt die Rechtsverstöße des Justizapparats mit
       Paragrafen.
       
       Die dieser Tage erschienene Taschenbuchausgabe (Heyne Verlag) von „Wahn und
       Willkür“ setzt die Chronik fort. Da sie vom Detail lebt, lässt sich ihr
       Inhalt nicht in Kürze wiedergeben. Die Schlussfolgerung aber lautet: Alle
       aufgeführten Steuer- und strafrechtlichen Ermittlungen gegen mutmaßlich
       kriminelle Magnaten wurden auf Anweisung hoher und höchster
       Regierungsmitglieder gestoppt.
       
       Folgen: Die ausgefallenen Steuereinnahmen wurden durch Kredite ersetzt.
       Durch diese Fehlbeträge sowie Verluste aus staatlicher Misswirtschaft haben
       sich Staatsschulden im hohen zweistelligen Milliardenbereich angehäuft, für
       die täglich eine Million Euro Zinsen anfallen. „Man praktiziert genau das,
       was man den Griechen vorwirft!“ (S. 219). Trotzdem blieben Finanzbehörden
       unterbesetzt, wurden Beamte, die Rechtsverstöße ahnden wollten, behindert
       oder mit Sanktionen belegt. Der Macht- und Amtsmissbrauch ist in der
       bayerischen Regierung systemisch geworden.
       
       ## III.
       
       Wilhelm Schlötterer bringt Vorschläge, wie dem Missstand beizukommen sei:
       Unabhängigkeit der Justiz, damit gesetzwidrig handelnde Politiker mit
       Strafverfolgung rechnen müssen; Kontrolle der Staatsanwaltschaft etwa durch
       den Verfassungsgerichtshof; Verlängerung der Verjährungsfristen für
       Amtsmissbrauch et cetera. These und Vorschläge hatten schon in der
       Hardcover-Ausgabe gestanden. Auch damals geschah: nichts.
       
       Die Politiker schwiegen, die Justiz mauerte, die Presse griff einzelne
       prickelnde Fälle auf und berichtete über Beschwerden der Strauß-Kinder, die
       keine unversteuerten Millionen geerbt haben wollen. Im Ergebnis wurde
       Schlötterers Buch als Privatmeinung wahrgenommen, also keiner Debatte wert.
       Diese Deutung isoliert neben dem Autor auch die Leser: Hunderttausend
       Haareraufer sind keine politische Kraft, wenn sie ohne Resonanz bleiben.
       
       ## IV.
       
       Das Grundgesetz schreibt eine ordnungsgemäße Durchführung der Bundesgesetze
       vor, doch die bayerische Regierung setzt sich darüber hinweg: unter steter
       Anrufung des CSU-Idols Franz Josef Strauß.
       
       Was ist das nun für ein Idol? Schlötterers exakt dokumentierte Untersuchung
       schildert einen korrupten Potentaten, der gegen gewaltige Bestechungssummen
       Milliardäre und Millionäre vor Steuer und Strafverfolgung schützte,
       ungezählte Millionen Mark Schmier- und Schwarzgelder, Parteispenden und
       illegale Provisionen beiseiteschaffte und auf Schweizer Konten verteilte,
       der sich von Geschäftsfreunden Prostituierte und Kellnerinnen zuführen ließ
       (er selbst zahlte nicht gern), der Urlaube, Privatflüge und Juwelen für
       seine Frau als Geschenke von Unternehmern forderte. Er belog Volk, Landtag
       und Bundestag. Er konnte brüllen und pöbeln, er soff derart, dass er einmal
       vollgepisst zu einer Fernsehaufzeichnung erschien und einen Begleiter, der
       ihm beim Umziehen half, in den Hintern trat.
       
       Machtmissbrauch geht immer mit psychischer Regression einher: Strauß hatte
       wie viele Potentaten Züge einer Kabarettfigur, die aus traurigen Gründen
       von allen gefürchtet wird. Und dieser enthemmte, zur Selbstkritik unfähige
       Mann, der bei Anwendung der Gesetze höchste Gefängnisstrafen bekommen
       hätte, wäre beinah Bundeskanzler geworden. Erzwingt dieser alarmierende
       Betriebsunfall der Demokratie nicht eine öffentliche Aufarbeitung?
       
       ## V.
       
       Stattdessen bekennen sich die CSU-Fürsten Stoiber, Seehofer und Söder
       weiterhin offensiv zum „Helden“ und „Vorbild“ Strauß. Es ist
       unwahrscheinlich, dass sie sich damit als Fans der Regierungskriminalität
       outen wollen (obwohl sie es tun). Halten sie Strauß’ Taten für korrekt?
       Damit befänden sie sich im Widerspruch zu Straf- und Grundgesetz. Meinen
       sie, dass Missetaten verschwinden, wenn man sie ignoriert – ein magisches
       Denken im Sinne der oben genannten Regression? Oder demonstrieren sie wider
       besseres Wissen eine Art Kumpanei mit dem „Volk“ im Vertrauen darauf, dass
       es Schlötterers Bücher schon nicht lesen wird?
       
       ## VI.
       
       An dieser Stelle ein paar Worte zum Volk. Es heißt, das Volk liebte Franz
       Josef Strauß.
       
       Populismus, wie FJS ihn praktizierte, setzt auf eine Kultur der Macht, die
       dem „Volk“ attraktiver erscheinen soll als eine Politik der Vernunft. Die
       Kultur der Vernunft kostet Anstrengung, Prüfung, Zweifel, Konflikt. Die
       Kultur der Macht verspricht Selbstidealisierung, Selbstherrlichkeit,
       direkten Zugriff, Enthemmung. Mancherorts spekuliert sie noch auf eine
       angeblich traditionelle Sympathie zur Gaunerei: „A Hund is er scho“ –
       Niedertracht als bayerische Folklore.
       
       Aber stimmt das so? Eine Machtkultur dient den Regierenden, nicht dem Volk.
       Das Volk hat keinen Zugriff, es soll sich am aggressiven Stil berauschen,
       damit es nicht merkt, wie es ausgeplündert wird. Zudem muss man es mit
       Autoritätsgebärden wie Pomp und Drohung bändigen. Dass aber auch das nicht
       reicht, wusste schon F. J. Strauß, der Virtuose falscher Versprechungen. Er
       dröhnte etwa beim politischen Aschermittwoch 1976, er werde sich zugunsten
       der Landwirte für einen gerechten Fleischpreis einsetzen, und flog am
       nächsten Tag nach Budapest, um 2.000 Tonnen Schweinefleisch zum halben
       Preis für den Import nach Bayern zu besorgen. Als der Pilot ihn auf den
       Widerspruch hinwies, lachte er: „So muss man’s halt machen.“
       
       F. J. Strauß belog das Volk vorsätzlich. Offenbar bezweifelte er, dass es
       ihn auch in Kenntnis der Tatsachen wählen würde.
       
       ## VII.
       
       Demokratie ist eine Kultur der Vernunft, ein Ideal, für das wir psychisch
       eigentlich nicht gerüstet sind. Der Hang zu Macht, Missbrauch und
       Unterwerfung wird niemals verschwinden, deshalb bleibt Widerspruch gegen
       Mächtige gefährlich und angstbesetzt. Einzelne Mutige werden von der Masse
       der Anpassungswilligen ausgestoßen. Machtkontrolle bedarf, da sie
       institutionsintern kaum funktioniert, der öffentlichen Kritik: damit Beamte
       sich wieder auf die Autorität der Gesetze zu berufen wagen, statt der
       Willkür Vorgesetzter zu folgen; und damit auch Bürger, die nicht
       Schlötterer lesen, die Chance auf einen demokratiefähigen Kenntnisstand
       bekommen.
       
       Frage an die Presse: Weshalb bleibt die Debatte um Schlötterers
       Enthüllungen aus? Ehrfurcht vor einem seit 27 Jahren toten korrupten
       Politiker? Wirklich? Falls es andere Motive gibt: Welche könnten das sein?
       Vielleicht ist das der eigentliche Krimi.
       
       21 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Morsbach
       
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