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       # taz.de -- Die Wahrheit: Im Niedrigzinsumfeld
       
       > Auch Dandys heuern mittlerweile als Flaschensammler an - eine kleine
       > Gesellschaftskunde der schönen neuen Welt.
       
       Kai-Uwe Benstorpps Auftreten verrät umgehend seine Herkunft aus
       großbürgerlichem Hause. Der tadellos sitzende, marineblaue Blazer mit den
       Goldknöpfen, die schneeweiße Hose, deren makellose Bügelfalte beim Gehen
       messerscharf die Winde teilt, die rahmengenähten Budapester, das seidene
       Einstecktuch – ja, die ganze Erscheinung verrät einen Mann, dem auch die
       stärksten Stürme des Lebens nichts von seiner gelassenen Heiterkeit nehmen
       konnten.
       
       Und durch Stürme war Kai-Uwe Benstorpp in den letzten Jahren zur Genüge
       gegangen. Er, der jüngste Spross der altehrwürdigen Trikotagen-Dynastie
       Benstorpp, hatte zuletzt doch einiges einstecken müssen – vor allem
       Pfandflaschen. „In Zeiten der Eurokrise müssen auch die besseren Stände den
       Armani-Gürtel ein wenig enger schnallen“, bekennt der passionierte
       Opernliebhaber und fischt aus dem Abfalleimer am Düsseldorfer Rheinufer
       zwei Plastikflaschen, die er diskret in seinem Rimowa-Trolley verstaut.
       
       „Schon wieder 50 Cent Pfand verdient. Wer den Heller nicht ehrt, ist des
       Talers nicht wert.“ Diese mit heiligem Ernst ausgesprochene Lebensmaxime
       scheint der rote Faden zu sein, an dem sich Kai-Uwe Benstorpp durch die
       Turbulenzen der Finanzmarktkrise zu hangeln weiß.
       
       Überlebensstrategien im Niedrigzinsumfeld fordern den ganzen Mann. Vorbei
       sind die goldenen Tage ungestörter Couponschneiderei, vorbei die satten
       Renditen hochverzinslicher Bundesobligationen. Der einst sorgenfrei in den
       Tag hinein lebende Privatier Benstorpp muss wie viele seiner
       Standesgenossen mit Magerzinsen vorlieb nehmen, die das mühsam Ererbte
       dahinschmelzen lassen wie das sprichwörtliche Eis unter der Höhensonne.
       
       ## Der Streit um die Jagdgründe
       
       Und die Konkurrenz um die wenigen verbliebenen Gratiseinnahmen wird immer
       härter. „Kürzlich hat sich doch tatsächlich so ein dahergelaufener
       Balkanese erdreistet, in meinem Flaschensammelrevier zu wildern. Glauben
       Sie nur nicht, dass ich mir das habe gefallen lassen.“ Die eisblauen Augen
       Kai-Uwe Benstorpps blitzen angriffslustig – „der wird mir so schnell nicht
       noch einmal meine Jagdgründe streitig machen“.
       
       Doch hat es der 48-jährige Rheinländer wirklich nötig, sich in die
       Niederungen des Straßenkampfes zu begeben? Hat er nicht aufgrund seines
       Auftretens, seiner Bildung, seines ganzen „Backgrounds“ einen erheblichen
       Herkunftsvorteil gegenüber den finanzfernen Schichten unseres Landes? Muss
       er sich wirklich mit den Benachteiligten dieser Erde um Cent-Beträge
       streiten? „Aber ja doch“, versichert Benstorpp mit Nachdruck, „dieser
       Überlebenskampf auf der Straße stärkt den Charakter ungemein, survival of
       the fittest und so weiter.“
       
       Sicher, ab und an schiebt auch er eine ruhigere Kugel und gibt den
       Premium-Schnorrer an Plätzen, zu denen der gängige Bodensatz unserer
       Gesellschaft niemals Zugang hätte: am Eröffnungsabend der Bayreuther
       Festspiele etwa machte Benstorpp gut Kasse auf dem Grünen Hügel, indem er
       sich in den Pausen für betuchte Gäste, die keine Lust auf Schlangestehen
       hatten, an der Bar anstellte und ihnen für ein fürstliches Trinkgeld den
       Champagner brachte.
       
       ## Die Suppe bei der Caritas
       
       Aber das Tagesgeschäft bleibt doch das gute, alte Flaschensammeln, der
       beherzte Griff in den Abfallcontainer des Supermarkts, um sich ein paar
       abgelaufene Käseecken zu angeln, die warme Suppe am Abend bei der Caritas,
       um in dieser lebensfeindlichen Niedrigzinsphase einigermaßen über die
       Runden zu kommen.
       
       Bei aller zur Schau getragenen Souveränität ist jedoch ein tief sitzendes
       Unbehagen zu spüren, das sich Kai-Uwe Benstorpp gleichwohl niemals
       eingestehen würde. Die Angst vor der galoppierenden Verelendung des
       Mittelstands, sie ist an Herrenmenschen wie ihm buchstäblich mit Händen zu
       greifen. Was aber gedenkt er zu tun, wenn seine Barreserven weiterhin
       dahinschwinden?
       
       „Dann halte ich neben einem Geldautomaten auf der Kö die Hand auf –
       irgendwer wird mir schon was geben.“ Kai-Uwe Benstorpp erweist sich, selbst
       beim Blick in den finanziellen Abgrund, mit seiner cleveren Standortwahl
       als gewiefter Marktbeobachter.
       
       25 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rüdiger Kind
       
       ## TAGS
       
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