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       # taz.de -- Pornos und Glauben: Herr, vergib!
       
       > Ein Student, ein Maschinenbauer, ein Ehemann – insgesamt sieben Herren
       > suchen nach Heilung. Sie glauben, Pornos seien Sünde.
       
   IMG Bild: Oh Herr, kann denn Liebe Sünde sein?
       
       Sechs Männer sitzen an zwei aneinandergeschobenen Tischen und warten auf
       einen siebten. „Ein jegliches hat seine Zeit“, zitiert jemand in das
       Schweigen hinein. Bibelfest. Unter der verschworenen Gemeinde zucken die
       Mundwinkel einiger Wissenden. Die überschaubare Gruppe kennt sich. Sogar
       besser, als manchen Teilnehmenden liebscheint.
       
       Erneut wird versucht, die Stille zu durchbrechen, als sich unentschlossene
       Blicke bei Limetten-Brause und stillem Mineralwasser treffen. Schnell ist
       sich die Gruppe über die auf dem Tisch stehenden Flaschen einig: In der
       giftgrünen Flüssigkeit sind nur drei Prozent Fruchtgehalt. Zustimmendes
       Raunen. Die Wasserflasche wird durch den wohnzimmergroßen Raum zum
       Sitznachbarn weitergereicht. Der Smalltalk vor dem großen Krisengespräch
       wirkt stumpf. Alle zwei Wochen passiert das. Anhänger des Evangeliums, der
       „frohen Botschaft“, versammeln sich in Wehr. Einem Ort nahe der
       schweizerischen Grenze. Sichtbar glücklich ist am Ende nur einer. Ein
       Maschinenbauer, der in der Nähe wohnt. Eine gefühlte Ewigkeit zu spät
       trifft er auf die Wartenden. Dann wird gebeichtet.
       
       Die letzte Sitzung ist zwei Wochen her. In dieser Zeit haben manche
       gesündigt. Einige stundenlang. Einer ist standhaft geblieben. Pornos sind
       von Gott nicht gewollt – dieser Konsens führt die Männer zusammen. Die
       meisten bewegen sich mit ihrem Alter um die Midlife-Crises. Manche stecken
       tief „im Sumpf“ drin. Es gibt aber auch Zweifel an Gottes Worten. Wenn die
       auch nicht gerne gesehen sind.
       
       Julius* fängt mit der Beichte an. Ein junger Theologiestudent im zehnten
       Semester, der ein entsprechendes T-Shirt seiner Universität trägt. Mit dem
       lichten Haar und seiner Brille wirkt der dürre Gläubige ein wenig zu alt
       für sein Oberteil. Julius möchte nach dem Abschluss einer „pastoralen
       Tätigkeit“ nachgehen. Die christliche Selbsthilfegruppe ist ihm wichtig. Er
       hat sie gegründet. Auch weil er selbst betroffen ist. Er ist es, der
       nochmal nachhakt, wenn Männer sich nicht trauen alles zuzugeben. Jedes
       Wort, mit dem er die Runde der Betroffenen moderiert, klingt so, als könnte
       es von den kalten Mauern einer Kirche widerhallen. Wichtig gemeint
       klingend, aber vorsichtig gewählt.
       
       ## Dann entdeckte er diese „Heftchen“ seines Vaters
       
       An diesem Abend ist für Julius nicht nur die Männerrunde anwesend, sondern
       auch Jesus. Und vor dem Messias möchte er bemüht ehrlich sein. Es geht um
       Vergebung. Der jüngste Betroffene stellt sich als Ehemann vor. In einem
       Monat wird er Vater. Heute möchte er zum ersten Mal von seinen Problemen
       erzählen. Julius nimmt das als Anlass, um weiter auszuholen. Eigentlich
       werden nur die letzten zwei Wochen besprochen. Die Geschichte von Julius
       ist den meisten Anwesenden nicht neu. Doch als der Theologiestudent anfängt
       von seinen Kindheitserinnerungen zu erzählen, hören alle mit gesenktem
       Köpfen zu.
       
       Am Anfang seiner Erinnerungen sind da sein Vater und dessen versteckte
       „Heftchen“, die der junge Julius entdeckt. Die Neugierde ist geweckt und
       wird über die Jahre erst zur Gewohnheit und dann zur Sucht. Die
       Abhängigkeit, von der der Mitdreißiger erzählt, wird schlimmer. Erst kommt
       das Internet. Dann kommen die Smartphones. Pornos sind für den
       Alleinstehenden so zu jeder Zeit an jedem Ort eine Bedrohung. Auch in dem
       Studentenwohnheim, in dem er mit seinem Kommilitonen in einem Zimmer lebt.
       
       Doch es gibt für Julius durchaus Zeiten, in denen er sein Verlangen für
       immer gestillt glaubt. Software, die einschlägige Internetseiten für ihn
       blockieren soll, hält sein Suchtverhalten in Schach. Das gibt ihm
       „Freiheit“ zurück. Er täuscht sich, nachdem er die Sperren wieder aus
       seinem Computer und Handy löscht. Anfangs ist Julius sich sicher, dass er
       den Selbstschutz nicht mehr benötigt. Heute beichtet er der Gruppe, dass er
       in den letzten zwei Wochen die Anti-Porno-Software neu eingerichtet hat.
       Die Sucht ist wieder da. Für die Anwesenden ist Julius’ Geschichte nicht
       nur nachvollziehbar, sondern teilweise auch eigene Realität. Die meisten
       sind seit vielen Jahren verheiratet.
       
       Ein Mitglied, das sich längere Zeit nicht mehr hat blicken lassen, erzählt
       von seiner Ehe. Worte wie Pornografie gehen ihm dabei nicht über die
       Lippen. Hilfesuchend hält er sich an seinem Plastikbecher fest. So wie auch
       jeder andere, der mit Erzählen an der Reihe ist, stecken ihm anfangs die
       Worte im Mund fest. Sein fremdsprachiger Akzent macht es an manchen Stellen
       schwer, ihn zu verstehen. Doch sie fragen interessiert nach, wenn etwas
       unklar bleibt.
       
       Seine Frau fühle sich schon längere Zeit durch seine Sucht betrogen. Ein
       Kopfnicken geht durch die Runde. Die Ehemänner kennen das Problem. Doch
       darüber reden fällt allen schwer. Wieder ist da diese alles verschlingende
       Stille, die in großen Kinosälen eintritt, kurz bevor die Vorstellung
       beginnt.
       
       Der Film des nächsten Ehemanns in der Runde ist vorerst gestoppt. Er
       durchbricht das Schweigen, nachdem er einen Augenkontakt zu Julius gefunden
       hat, der ihn als Einziger ansieht.
       
       Seit längerer Zeit gehe es ihm gut. So, als würde er seinem Vorgesetzten
       die letzten positiven Quartalszahlen präsentieren, erzählt er von den
       vergangenen zwei Wochen. An einem Abend habe er sich mit seiner Frau
       zusammengesetzt und über alte Zeiten nachgedacht. Er sei schon lange nicht
       mehr rückfällig. Sich an seinen „Sumpf“ zurückerinnern möchte der stämmige
       Baden-Württemberger nicht. Zumindest spricht er nicht darüber. Der Glaube
       an Gott, seine geduldige Frau und die Selbsthilfegruppe haben ihn von den
       Pornos wegbekommen.
       
       ## Von Pornos spricht er wie von Pickeln
       
       Die Stimmung bleibt auch nach diesem positiven Beispiel verhalten. Nur
       einer reagiert: der Maschinenbauer, der sich eben noch verspätet hat. Der
       Mann um die Vierzig steht von seinem Stuhl auf und läuft den Raum auf und
       ab. Er bittet um Verzeihung. Er könne nicht länger stillsitzen. Ihm wird
       stillschweigend verziehen.
       
       Ein Neuer fängt an, sich der Gruppe vorzustellen. Der junge Mann, der jetzt
       an der Reihe ist, hat klare Erwartungen. Von seiner Sucht nach Pornografie
       spricht er wie von einem Pickel. Die Unreinheit hätte ihn nicht weiter
       gestört, wenn es seine Frau nicht gäbe. Die hat ihm vor der Hochzeit die
       Selbstbefriedigung zu Pornos untersagt. Jetzt möchte er den Mitesser gerne
       ausdrücken. Lange Zeit war das Problem für ihn keines und so richtig
       verstehen, wie er da reingerutscht ist, kann er es auch jetzt nicht. Ganz
       klar hingegen ist ihm, dass er in einem Monat mehr Verantwortung tragen
       müsse. Dann erwartet er von seiner Frau sein erstes Kind. Bis dahin möchte
       er seine Sucht nach Pornos überwinden.
       
       Lange Zeit hat er versucht, allein von den Filmen loszukommen. Zweimal hat
       seine Frau ihn erwischt und beide Male gab es eine Krise. Ständig gab es
       Kontrollen und Zweifel und immer wieder muss er lügen. Eine lange Weile ist
       das regelmäßige Onanieren zu Pornos nur ein Problem seiner Frau. Erst jetzt
       habe auch er eingesehen, dass es so nicht mehr weitergehen könne.
       
       Der junge Mann erinnert an einen Fußballspieler, der nach einem verlorenen
       Spiel dazu vertraglich verpflichtet ist, sich vor den Reportern zu
       rechtfertigen. Mit demselben Sportsgeist, mit dem er seine Sucht besiegen
       will, zeigt er sich auch äußerlich: schlank, kurze Haare – kontrolliert.
       Pornografie hat seine Jugend bis zum heutigen Tag geprägt. Jetzt wirkt er
       entspannt. Die erste Hürde ist genommen. Das bestätigt ihm Julius und
       später auch Jesus. Dafür wird zum Schluss zumindest gemeinschaftlich
       gebetet.
       
       Doch bevor sich die Gemeinde direkt an Gott wendet, soll sich der Mann
       offenbaren, dem das Sitzen bis jetzt so schwergefallen ist. Immer noch
       streift er scheinbar ziellos durch den Raum. Er bittet darum, im Gehen über
       seine Sünden berichten zu dürfen. Das mache nur nervös, meldet sich
       schließlich der Ehemann zu Wort, bei dem der Glaube schon so gut geholfen
       hat. Der Unruhige setzt sich ohne Widerworte rechts neben dem Neuen auf den
       einzigen freien Stuhl.
       
       ## Ein Jahr kam er ohne pornografisches Material aus
       
       Die Sucht hat ihn im Griff. Seit Monaten habe er nicht mehr onaniert. Davon
       sei er losgekommen. Doch noch immer schaue er sich schmuddelige Filme an.
       Das könne ganze Abende füllen. So richtig gegen diese Gewohnheit hat er
       sich noch nicht entscheiden können. Er zweifelt. Früher kaufte er sich
       erotische Magazine. Durch das Internet sank die Hemmschwelle auch für ihn.
       
       Der Single ist schon immer allein und wird es auch bleiben – das steht für
       ihn fest. Nur einmal in seinem Leben war er verliebt und dafür ist er Gott
       auch heute wieder dankbar. Ein Jahr lang ist er in dieser Phase ohne
       pornografisches Material ausgekommen.
       
       Der schüchtern wirkende Maschinenbauer behält seine Schwärmerei lange für
       sich. Als er sich dann doch dazu überwinden kann, die Frau anzusprechen,
       wird er enttäuscht. Kurze Zeit später fährt der Abgelehnte wieder fort, im
       Internet nach Pornos zu suchen. Dann spricht er von seinen Depressionen.
       Von einer „Gesamterlösung“.
       
       Die suizidalen Gedanken lassen auch den sonst souverän wirkenden Julius
       unsicher werden. Aber schon im nächsten Moment hilft ihm erneut der Glaube.
       Der Pastor in Ausbildung erklärt, dass Gott sich gegen Selbsttötung
       ausspricht. Der Maschinenbauer wisse das. Dann schweigt er. Erst kurz vor
       Mitternacht erzählt er auch von für ihn positive Seiten im Leben. So ist er
       sehr froh, dass er nur mit der Sucht nach Pornos leben muss. Schlimmer wäre
       es, wenn er homosexuell wäre.
       
       Der Maschinenbauer kann aus seiner depressiven Erkrankung aussteigen, wenn
       er sich „schöne Frauen“ im Internet anschaut. Doch auch in diesem Fall
       erklärt Julius, dass Gott so was nicht sehen will. Das letzte von Julius
       angeführte „Amen“ beendet die Sitzung. Die Augen aller sind geschlossen.
       Für den Neuen wird besonders viel Kraft erbeten. Auch dass er der Runde
       treu bleiben möge. Der Maschinenbauer weiß noch nicht, ob er nächstes Mal
       wiederkommt. Er fühlt sich durch Julius eingeengt. Auf der anderen Seite
       ist er froh, dass es manchen Süchtigen noch schlechter geht als ihm.
       
       Daraus zieht er Kraft.
       
       Auch wenn das nicht besonders christlich ist.
       
       * Name geändert
       
       30 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andre Beinke
       
       ## TAGS
       
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