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       # taz.de -- Kolumne Unter Schmerzen: Die Verwandlung
       
       > Wenn man zu lange gibt, ohne etwas zurückzubekommen: Man muss aufpassen,
       > in was oder wen man investiert.
       
   IMG Bild: Immerhin ist keine Katze im Bild. Sondern nur ein eingerahmter Asiatischer Laubholzbockkäfer und ein Rauhaardackel.
       
       Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich
       in seinem Bett schon wieder nicht zu einem ungeheuren Ungeziefer
       verwandelt. Es blieb ihm wie so oft nichts anderes übrig, als die Weckuhr,
       die auf dem Kasten stand, auszustellen, aufzustehen und zur Arbeit zu
       gehen.“
       
       Ziemlich genau vor einhundert Jahren erschien der Text mit dem berühmten
       Anfangssatz, der wohl nur von dem Auftakt zum „Process“ geschlagen wurde.
       
       Und so oft Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ als großer
       Verweigerungstext aus der präneoliberalen, oder sagen wir einfach:
       mittelkapitalistischen Phase zitiert wurde, so oft wurde dieser Anfang auch
       umgeschrieben.
       
       Zuletzt von dem befreundeten Schriftsteller Thorsten Krämer, der Gregors
       Verwandlung in einen Käfer, die ihn nicht zur Arbeit gehen lässt, in eine
       erweiterte Avatar-Fantasie mit ostasiatischem Touch (Samsa wird von einer
       Geisha gerettet, die gleichzeitig ein Waschbär ist) verwandelt.
       
       Man könnte Kafkas Text also auf die Formel bringen: Wer sich in ein Insekt
       verwandelt, braucht nicht arbeiten zu gehen, jedenfalls nicht zu einer
       menschlichen Arbeit. Nahrung ranschaffen und für Reproduktionsmöglichkeiten
       sorgen muss so ein Insekt natürlich trotzdem; der enorme Fleiß, der darin
       liegt, lässt sich dieser Tage beispielsweise bei den äußerst sehschwachen
       Wespen beobachten.
       
       Käfer scheinen gemütlicher, aber nicht weniger eklig: Obwohl sie recht
       unaggressiv daherkommen, werden sie – man denke an die Julikäfer – noch
       viel lieber erschlagen als die stechen könnenden Wespen.
       
       Man muss etwas investieren, wenn man etwas bekommen will, das ist einer der
       Sätze, die mir meine Analytikerin beigebracht hat. So funktioniert eben
       auch der Kapitalismus: Ohne Moos nichts los, ohne Investition keine
       Rendite. In der Tierwelt läuft das nicht groß anders, nur eben
       automatischer, da ganz ohne Geld: Dort sind alle auf ihre Primärtriebe
       reduziert.
       
       ## So kommt es zum Burn-out
       
       Das Problem ist nur die Verteilung, könnte man jetzt fortfahren. Die
       unterschiedlichen Werte der jeweiligen Energie. So mancheR wird schon als
       Ungeziefer geboren. Und die Familie oder, besser noch die Bediensteten
       bringen das Essen ins Zimmer (und bieten sich zur Verlustierung an).
       
       Man muss aufpassen, habe ich im Folgenden lernen müssen, in was oder wen
       man investiert: Die Rechnung geht nämlich nicht immer auf. Manchmal
       verbrennt das Kapital rückstandslos, manchmal sind Blutsauger unterwegs,
       manchmal herrscht ein Egoismus, ein Karrieredenken, das von Rendite nichts
       wissen will. Und so kommt es zum Burn-out: Wenn man zu lange gibt, ohne
       etwas zurückzubekommen; wenn alles Investment im Erdboden versickert; wenn
       man das Gefühl bekommt, schön auf Verschleiß gefahren worden zu sein.
       
       Dann ist es Zeit, sich in ein Insekt zu verwandeln. Obwohl, stimmt gar
       nicht, das erledigt der Körper dann schon selbst: Und zwar so, dass man
       eines Morgens aus unruhigen Träumen erwacht und einfach nicht mehr
       aufstehen kann.
       
       21 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR René Hamann
       
       ## TAGS
       
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