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       # taz.de -- Debatte Demokratie in Deutschland: Das deutsche Dispositiv
       
       > Der hässliche Deutsche ist zurück. Scharfmacherisch im Ton, unerbittlich
       > gegenüber Griechenland, entwürdigend im Umgang mit Flüchtlingen.
       
   IMG Bild: Die Fahne allein reicht Nationalisten nicht mehr. Auch das könnte neu sein.
       
       Dreimal haben wir in jüngster Zeit das Gefühl haben können, dass mit der
       Entstehung der öffentlichen Meinung und ihrer Beziehung zum offiziellen
       Handeln der Regierung in Deutschland irgendetwas nicht so recht stimmt,
       jedenfalls wenn man es nach den alten Werten von Demokratie, Aufklärung und
       Humanismus betrachtet.
       
       Das war die Ukraine-Krise, in der sich ein unangenehm „scharfmacherischer“
       Ton entfalten durfte, das waren die „Flüchtlingsströme“, in denen
       offensichtlich niemand je etwas anderes sehen wollte als ein „Problem“ für
       „uns“ (Mitleidlosigkeit als Konsenshaltung, auch wenn nicht jeder gleich
       „Asylantenheime“ abfackeln will), und das war die griechische Finanzkrise,
       bei der jeder sich der Zustimmung sicher sein konnte, der bekundete, „hart
       bleiben“ zu wollen und „die Griechen“ für ihre „Faulheit“, ihre
       „Trickserei“, ihre „pubertäre Revoluzzertruppe“ bestrafen zu wollen.
       
       Natürlich verwundert es nicht, dass das Medium der deutschen Niedertracht,
       die Bild-Zeitung, in allen diesen Fällen die Rolle des „Einpeitschers“
       spielte. Schon mehr verwundert es die heroischen Reste der kritischen
       Intelligenz hierzulande, wie sich da ein weder durch Tatsachen noch durch
       Werte gedeckter Shitstorm bis in die publizistische und diskursive Mitte
       hinein verbreitete. Man darf wieder hassen, verachten, denunzieren, und
       das, so scheint’s, fühlt sich gut an – und verkauft sich gut.
       
       ## Reste der kritischen Intelligenz
       
       Die erwähnten Reste der kritischen Intelligenz spürten in diesen drei
       Meinungs- und Bilderwolken über Merkel-Deutschland vor allem den
       jämmerlichen Zustand der deutschen Presse auf. Hier wird eben geschrieben
       und gesendet, was der unaufhaltsam nach rechts driftende deutsche
       Mainstream haben will.
       
       Aber wie es so geht mit solchen Phänomenen: Es steckt vielleicht mehr
       dahinter als ein bloßer Geschmacks- und Diskurswechsel in der Sprache der
       Politik. Es ändert sich nicht nur die öffentliche Meinung in Deutschland,
       es ändert sich vielmehr die Art, wie sie entsteht, und die Art, wie sie in
       offizieller Politik genutzt wird.
       
       Eine These dazu: Aus der Herrschaft der Diskurse in der Demokratie wird in
       überraschender Eile die Herrschaft der Dispositive in der Postdemokratie.
       „Was ist ein Dispositiv?“ Giorgio Agamben hat in seinem kleinen, aber
       wichtigen gleichnamigen Essay nicht nur die Frage beantwortet, die uns seit
       Foucaults noch ein wenig offener Verwendung des Begriffs umtreibt.
       
       Die Dispositive „wuchern“, so Agamben; im Leben des Einzelnen wie der
       Gesellschaft gibt es keinen Moment, in dem sie nicht wirken. Dispositive
       verdrängen nach und nach alle anderen Formen von Kommunikation und
       Wahrnehmung, vor allem die von Demokratie, Aufklärung und Humanismus
       geprägten, die Theorien, die Debatten, die Kritik, am Ende, wer weiß, das
       Denken selber.
       
       ## Das Eigenleben der Dispositive
       
       Wenn man sagt, eine postdemokratische Regierung „nutze“ die Dispositive, so
       beschreibt man zugleich ihre Macht (regieren, ohne dass die Regierten
       merken oder sich erklären können, dass sie regiert werden) und ihre
       Ohnmacht (das Dispositiv erfasst die Regierung so sehr wie „das Volk“;
       keine von beiden kann zurück oder „zur Vernunft kommen“).
       
       An einem entscheidenden Punkt beginnen die Dispositive ihr Eigenleben. Es
       stimmt, dass postdemokratische Regierungen vermittels Dispositiven
       regieren, ebenso aber stimmt, dass die Herrschaft der Dispositive sich der
       postdemokratischen Regierungen bedient. Angela Merkel ist das ideale
       Zentrum für eine Herrschaft der Dispositive. Die Regierung Merkel surft auf
       den deutschen Dispositiven.
       
       Die Dispositive entfalten enorme Macht, aber es gibt kein einzelnes Subjekt
       der Macht über sie, sondern nur attraktive Vorstellungen, Begriffe und
       Personen (Bilder). In Dispositiven treffen sich alle Elemente einer
       Gesellschaft im Neoliberalismus: die Ökonomie, das Design, die Medien, die
       Wissenschaft, die Justiz, die Politik, die Kultur et cetera. Im Dispositiv
       werden jene Kräfte, die sich in einer demokratischen Gesellschaft
       wechselseitig kritisieren und kontrollieren sollten, zu Komplizen. Aber sie
       müssen es nicht zugeben. Vielleicht müssen sie es nicht einmal wissen.
       
       ## Deutschtum statt Demokratie
       
       Weil ein Dispositiv etwas anderes ist als ein Diskurs, kann darin ja auch
       niemand belangt werden. Im Dispositiv verwandelt sich, zum Beispiel, das
       Restmitleid mit afrikanischen Flüchtlingen, die gerade noch mit dem Leben
       davongekommen sind, in blanken Hass, sobald sie da sind. Es genügen ein
       paar Zwischenschritte: die üblen „Schlepper“, die Ungerechtigkeit bei der
       „Verteilung“ der Flüchtlinge, die Vorstellung von „Wirtschaftsflüchtlingen“
       (als dürfte man vor dem Verhungern nicht fliehen), und schon gibt es ein
       Dispositiv, in dem sich Medienberichte, Regierungshandeln und „Volkes
       Stimme“ (beim Abfackeln von „Asylantenheimen“) „irgendwie“ zusammenfinden,
       nämlich zu einem Dispositiv von Abwehr, Entwürdigung und Verachtung.
       
       Es ist in den letzten Jahren ein neues Dispositiv des Deutschseins
       entstanden. Es hat nicht nur zum Popnationalismus der schwarz-rot-goldenen
       Rückspiegelüberzieher und der Rhetorik des
       Das-wird-man-doch-noch-sagen-Dürfens geführt, sondern zu einem
       prinzipiellen Wandel: Das Dispositiv des Deutschseins hat den Diskurs der
       Demokratie nahezu vollständig gefressen. Zustimmung wird in diesem
       Dispositiv nicht durch Demokratischsein, sondern durch Deutschsein erzeugt.
       
       Deshalb darf die Springer-Presse ihr unentwegtes und irrationales
       Griechen-Bashing zugunsten einer Politik der deutschen Regierung betreiben,
       die ein sehr dezidiertes Ziel hat: ein entdemokratisiertes Europa unter
       deutscher Hegemonie. Und deswegen kann der eine sagen, die Neuwahlen seien
       eine Chance dafür, dass Griechenland „zur Vernunft“ komme, und der andere,
       sie seien nur wieder eine neue „Trickserei“ von Tsipras.
       
       Der Gegensatz im Diskurs löst sich im Dispositiv auf: Was immer Tsipras
       tut, im deutschen Dispositiv ist es falsch. Wir ahnen selbst in diesem
       mühsam noch zivilisierten Beispiel, wie die Herrschaft der Dispositive zu
       einer eliminatorischen Gewalt werden kann. Das erste Opfer des Dispositivs
       ist die Vernunft. Das zweite ist die Menschlichkeit.
       
       27 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Georg Seeßlen
       
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