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       # taz.de -- Ostautobahn in Österreich: Die Straße der Freiheit und des Todes
       
       > Die Ostautobahn ist für viele das Tor nach Mitteleuropa. Flüchtlinge
       > werden auf dem Pannenstreifen ausgesetzt. Jüngst starben 71 in einem Lkw.
       
   IMG Bild: Flüchtlinge in einer provisorischen Einrichtung im österreichischen Nickelsdorf.
       
       WIEN taz | Auf der Ostautobahn am ehemaligen Grenzübergang Nickelsdorf
       lagern auf Feldbetten etwa 200 Menschen aus Syrien, Pakistan und dem Irak.
       Sie sind gerade erst aus Ungarn angekommen. Das Rote Kreuz hat ein
       Versorgungszelt errichtet und die Polizei alle verfügbaren Kräfte
       mobilisiert. Denn man bereitet sich auf weitere 7.000 Flüchtlinge vor, die
       schon in den nächsten Tagen aus Ungarn erwartet werden.
       
       Es handelt sich um jene Menschen, die vor einigen Tagen in Mazedonien
       aufgehalten und schließlich doch durchgelassen wurden. Die meisten haben
       inzwischen Ungarn erreicht und wollen das Land so schnell wie möglich
       verlassen. Helmut Marban, Polizeisprecher im Burgenland, berichtete
       Samstagabend von einer erhöhten Aufgriffsquote. Wann der große Ansturm
       komme, könne er aber nicht voraussagen.
       
       Für viele Flüchtlinge ist es eine Überlebensfrage, dass sie auf dem
       Transport mit den Lastwagen der Schlepper rechtzeitig von der Polizei
       entdeckt werden. Die Fahrzeuge sind meist so überladen, dass die
       Unfallgefahr steigt. Luft und Wasser sind knapp. Das zeigte sich am Freitag
       wieder im Bezirk Braunau unweit der deutschen Grenze, [1][als ein Lkw mit
       26 Flüchtlingen an Bord gestoppt wurde].
       
       Unter den 26 Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und Bangladesch, die auf
       engstem Raum im Laderaum zusammengepfercht waren, fanden sich zwei
       fünfjährige Mädchen und ein sechsjähriger Junge, die so stark dehydriert
       waren, dass sie nicht mehr lange überlebt hätten. Sie erholen sich
       inzwischen im Krankenhaus Braunau. Der Fahrer, ein 29-jähriger Rumäne,
       konnte nach einer Verfolgungsjagd gestellt werden.
       
       ## Jede Hilfe zu spät
       
       Den 71 Menschen, [2][die Donnerstag in einem Kühlwagen am Rande der
       Ostautobahn gefunden wurden], hätte wahrscheinlich auch eine frühere
       Entdeckung nicht mehr geholfen. Kriminaltechniker in Wien untersuchen den
       Kühlwagen und versuchen über die Auswertung der Mobiltelefone die Identität
       der Toten zu klären. Außer einem syrischen Pass konnte bisher kein Hinweis
       auf Namen und Herkunft der Opfer gefunden werden.
       
       Die Gerichtsmedizin in Wien ist noch mit der Feststellung von Todesursache
       und Todeszeitpunkt befasst. Der fortgeschrittene Verwesungszustand deutet
       aber darauf hin, dass sie noch in Ungarn erstickt sind. Das ist auch
       relevant für die Frage, wo die mutmaßlichen Schlepper vor Gericht gestellt
       werden.
       
       Ungarns Justiz hat am Wochenende gegen fünf Verdächtige Untersuchungshaft
       verhängt. Es soll sich um vier Bulgaren und einen Afghanen mit ungarischer
       Identitätskarte handeln. Entgegen ersten Meldungen ist der Halter des
       Kühlwagens nicht darunter. Die Männer weisen alle Anschuldigungen zurück.
       
       Die meisten Flüchtlinge werden auf der Ostautobahn A4 aufgegriffen. Sie
       verbindet Wien mit den kaum 60 Kilometer entfernten Grenzen zu Ungarn und
       der Slowakei.
       
       ## Viel befahrene Pendlerstraße
       
       Vor einhundert Jahren reiste man mit der Straßenbahn von Wien nach
       Pressburg. Heute ist Pressburg die Hauptstadt der slowakischen Republik und
       heißt Bratislava. Der Großraum Bratislava gehört zu den Boomregionen
       Europas und viele Slowaken können sich die Grundstückspreise in der
       Hauptstadt nicht mehr leisten. Sie finden als Alternative günstigen
       Baugrund jenseits der Grenze in den österreichischen Gemeinden Wolfsthal
       oder Kittsee. Die Straßenbahn verkehrt längst nicht mehr. Der Verkehr rollt
       heute über die Ostautobahn.
       
       Wer vom Osten her nach Österreich einreist, lernt das Land von einer
       prosaischen Seite kennen. Die Pannonische Tiefebene bietet von der Autobahn
       her keinerlei reizvollen Blickfang. Wie zum Beweis, dass hier ästhetisch
       nichts mehr zu verderben war, hat man auf der Parndorfer Platte einen
       Windpark errichtet, dessen Räder dank der roten Blinksignale auch nachts
       unübersehbar sind.
       
       Im Nirgendwo, direkt an der Autobahn, haben sich Factory Outlet Shops
       angesiedelt. Bei Bruckneudorf zweigt die Nordostautobahn A6 Richtung
       Bratislava ab, während die A4 nach Nickelsdorf/Hegyeshalom, führt, wo die
       M1 nach Györ und Budapest anschließt. Beide Grenzübergänge sind nur mehr
       wenige Minuten voneinander entfernt.
       
       Die Ostautobahn dient Tausenden Pendlern als Weg zur Arbeit: jenen, die in
       einer Grenzgemeinde leben und in Bratislava einen Job haben, Arbeitern aus
       dem burgenländischen Seewinkel, die täglich nach Wien fahren, und
       Geschäftsleuten, die zwischen Österreich, Ungarn und der Slowakei unterwegs
       sind. Von 50.000 Fahrzeugen täglich spricht die Autobahn- und
       Schnellstraßen Finanzierungs AG Asfinag, die für Sicherheit und Erhaltung
       der Straße zuständig ist. Bis 2020 rechnet sie mit 75.000. 17 Prozent davon
       ist Schwerverkehr.
       
       ## Notruf an Notruf
       
       „Was sich hier derzeit entlang der Ostautobahn A4 abspielt, ist ein
       Naturereignis.“ So beschreibt es ein Polizeiinspektor, der im Bezirk
       Neusiedl am See Dienst macht. Frühmorgens folge dort ein Notruf auf den
       anderen. Autofahrer, Anrainer und Passanten melden im Minutentakt
       Flüchtlinge, die irgendwo am Straßenrand ausgesetzt worden sind. Schnell
       baue sich ein Berg von Einsätzen auf, der sich erst im Lauf des Tages
       abarbeiten lasse, weil die Zahl der Flüchtlingssichtungen tagsüber abnimmt.
       
       Häufig werden Menschen mitten auf der Autobahn auf dem Pannenstreifen
       ausgesetzt. Schon mehrfach ist es zu Unfällen gekommen. Sie müssen
       eingesammelt und in Sicherheit gebracht werden. Oft versagen ihnen die
       Beine, weil sie so lange eingesperrt waren.
       
       Diese Methode der Schlepper ist nicht nur menschenverachtend, sie ist auch
       taktisch klug. Denn so werden Einsatzkräfte gebunden, die bei der Kontrolle
       möglicher Schlepperfahrzeuge abgehen. Wenn die Polizei nicht ausreichend
       Mannschaftstransporter parat hat, müssen die Flüchtlinge in vielen
       Einzelfahrten mit Einsatzwagen zu den Sammelstellen gebracht werden.
       
       Der Ruf nach flächendeckenden Grenzkontrollen, der von manchen Politikern
       zur Abwehr von Flüchtlingstransporten erhoben wird, stößt bei den
       Praktikern nur auf ein müdes Lächeln. Jede Lkw-Kontrolle nimmt rund 15
       Minuten in Anspruch. Wollte man den gesamten Schwerverkehr auf illegale
       Grenzübertritte überprüfen, müsste man ein Heer von geschulten Beamten
       einsetzen. Der Verkehr würde zum Erliegen kommen.
       
       30 Aug 2015
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Leonhard
       
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