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       # taz.de -- Ambient-Pionier Hans-Joachim Roedelius: „Ich quäle die Leute mit Stille“
       
       > Hans-Joachim Roedelius hat mit den Krautrockbands Cluster und Harmonia
       > Musikgeschichte geschrieben. In Berlin widmet sich ihm ein Festival.
       
   IMG Bild: „Ich muss ganz wach sein“: Elektronik-Pionier Hans-Joachim Roedelius macht bis heute Musik.
       
       taz: Herr Roedelius, „Lifelines“ heißt das Festival, das sich Ihrer Kunst
       widmet. Sie waren zunächst Krankenpfleger, Sterbebegleiter, Physiotherapeut
       und Masseur, ehe Sie zur Musik kamen. Sind sie zufällig Musiker geworden? 
       
       Hans-Joachim Roedelius: „Zufällig“ kann man nicht sagen. Ich denke, ich bin
       bereits durch meine Vorfahren für die Musik und Wortkunst prädestiniert
       gewesen. Viele davon waren Prediger, Kantoren und Lehrer; das habe ich nach
       der Wende von Verwandten erfahren, die auf der anderen Seite der Mauer
       gelebt haben. Grundsätzlich haben die genannten Tätigkeiten vieles mit
       meinem jetzigen Beruf zu tun: Es wird mir oft bestätigt, dass es ziemlich
       heilsam ist, was ich musikalisch mache; auch, was ich in meinen Texten
       schreibe.
       
       Ist Ihre Musik mit der Zeit meditativer geworden? 
       
       Als wir anfingen, hatten wir ja überhaupt keine Ahnung vom Musikmachen. Wir
       mussten uns alles selbst beibringen, unsere Tonsprache völlig neu erfinden,
       sowohl in der Zusammenarbeit mit dem kürzlich verstorbenen Dieter Moebius
       als auch mit Conrad Schnitzler, mit dem wir zusammen bei Kluster (später
       Cluster) spielten. Wir mussten herausfinden, wie sinnvoll es – zuerst für
       uns, aber auch für andere – ist, was wir über unsere Klanggeschichten
       vermitteln wollten. Die Musik wurde mit der Zeit stiller, kontemplativer.
       Das ging einher damit, dass ich mich gemeinsam mit Moebius an diesem
       wunderbar idyllischen Wohnplatz in Forst im Weserbergland niederlassen
       konnte.
       
       Haben Sie sich alle Instrumente und Programme autodidaktisch angeeignet? 
       
       Ja, natürlich.
       
       Auch das Klavier, das Sie heute so viel einsetzen? 
       
       Vor allem das Klavier. Als Kind wollte meine Mutter zwar, dass ich darauf
       zu spielen lerne. Das hat aber nicht geklappt, weil das Ding immer
       verstimmt war – das hat mich wahnsinnig genervt. Einmal in der Woche saß
       ich davor. Das hat aber nichts gebracht. Noten zu lesen und zu schreiben
       habe ich nicht gelernt – das kann ich immer noch nicht; will ich auch
       nicht. All das, was ein normaler Musiker lernen muss, brauche ich nicht.
       Ich habe ja bewiesen, dass man auch ohne akademische Ausbildung in der
       Musik beziehungsweise Kunst weit kommen kann.
       
       War eine solche Haltung bei den Krautrockern, zu denen man Sie zählte,
       vorherrschend? 
       
       Es waren viele dabei, die bei null angefangen haben, etwas zu machen. Es
       gab aber auch Leute wie Holger Czukay von Can, die sehr wohl wussten, was
       sie taten. Ich hab Musik immer aus dem Bauch heraus gemacht, ich hab’s
       wachsen lassen – das ist eine ganz andere Herangehensweise.
       
       Einfach machen, sich ausprobieren war ja eigentlich eine Errungenschaft,
       die man später mit Punk verband. War bei Ihnen dank Joseph Beuys dieser
       Gestus schon angelegt? 
       
       Beuys war der Lehrer Conrad Schnitzlers, der ja Kluster gegründet hat.
       Prinzip unserer Gruppe war es, mit den jeweils zur Verfügung stehenden
       Mitteln das zu machen, was sich aus dem Augenblick ergibt. Das basierte auf
       dem, was Schnitzler von Beuys gelernt hatte.
       
       Sie beschäftigen sich seit mehr als 40 Jahren mit elektronischer Musik, es
       sind mehr als 200 Alben in Verbindung mit Ihrem Namen veröffentlicht. Wie
       entdecken Sie heute noch etwas Neues? 
       
       Die Basis dafür ist die lange Erfahrung im Live-Spielen. Ich habe bislang
       mit unzähligen Partnern zusammen gespielt, die alle mit ihrer
       Persönlichkeit etwas anderes eingebracht haben. Das Reagieren auf das
       Gegenüber schafft schon so viel Spannung, dass sich daraus etwas Neues
       ergibt. Live zu spielen ist wichtiger als die Musik aus der Konserve – da
       hat man den direkten Kontakt zum Publikum und weiß sofort, wie relevant es
       ist, was man aus dem Moment heraus zum Klingen bringt.
       
       Mit welchen Programmen und mit welchem Material arbeiten Sie? 
       
       Ich benutze eine Menge Soundquellen – nicht nur vom Rechner. Über die Jahre
       habe ich viel Material gesammelt. Ich bemühe mich, beim Auftritt aus dem
       mitgenommenen Geräuschfundus passendes Klangmaterial davon in das jeweils
       entstehende Ganze einfließen zu lassen. Es ist immer eine spannende Sache,
       eine Klanggeschichte vor dem Hintergrund dessen aufzubauen, was man in 40
       Jahren schon alles gemacht hat. Genauso, wie mit neuen Tools zu arbeiten.
       Zum Beispiel benutze ich seit Neuestem ein iPad mit einem Programm namens
       Animoog, mit dem man vorgefertigte Sounds abrufen und dabei nach eigenem
       Gusto klanglich manipulieren kann.
       
       Spielen Sie außer dem Klavier heute noch andere Instrumente manuell? 
       
       Manchmal habe ich Klangschalen dabei. Oder Metalle, mit denen ich arbeite.
       Es kommt drauf an, wo ich eingeladen bin und was ich machen soll.
       
       Arbeiten Sie noch viel mit Field Recordings? 
       
       Damit habe ich ja bereits damals im Zodiak Free Arts Lab angefangen, das
       wir in West-Berlin gegründet haben. Ich habe aus dieser Zeit noch sehr
       viele Konserven parat. Fließendes Wasser und so. Oder Ameisen beim
       Liebesakt.
       
       Da hört man aber nicht so viel? 
       
       Ich habe das Glück, machen zu können, was ich will. Auch wenn nicht viel
       passiert, passiert etwas – man muss halt die Ohren aufsperren. Meine Frau
       sagt manchmal, ich quälte die Leute mit Stille. Stiller zu werden ist
       inzwischen Absicht bei mir, weil ich so viel Krach erlebt und selbst Krach
       erzeugt habe in den frühen Jahren, dass mir das irgendwann mal auf die
       Nerven ging. Es hat sich logisch ergeben, dass ich immer leiser wurde: ich
       werde ja auch immer älter.
       
       In den vergangenen Jahren hat man mehr und mehr die Bedeutung der
       elektronischen Musik der Siebziger, des Krautrocks und der
       Ambient-Pioniere erkannt. Auch in Deutschland hat das etwas zugenommen … 
       
       … Betonung auf „etwas“! Der deutschsprachige Raum, mit Ausnahme der
       Schweizer, ist eigentlich immer noch ziemlich uninteressiert an unserer
       Arbeit, was aber sicher seine Ursache darin hat, dass wir kaum Zuspruch
       seitens der Medien hatten und haben. Nur wenige wissen von uns. Das merkt
       auch an den Verkäufen: Die Labels Grönland und Bureau B verkaufen im
       Ausland weit mehr als in Deutschland.
       
       Wie wichtig ist es für Sie, dass sich das Grönland-Label von Herbert
       Grönemeyer und Bureau B sich Ihres Werks mit zahlreichen Veröffentlichungen
       annehmen? 
       
       Was Bureau B und Grönland leisten, ist ein Gottesgeschenk. Welche Energie,
       welches Sachverständnis und wie viel Gestaltungsvermögen die da
       reinstecken, ist fantastisch. Und auch ’n Haufen Geld! Ist ja nicht so,
       dass die Alben sofort über die Ladentheke gehen – die Labels müssen auch
       erst warten, bis sich das refinanziert.
       
       Spüren Sie denn selbst ein größeres öffentliches Interesse an Ihrer Musik? 
       
       Ja, langsam, aber sicher. Vor allem in der jungen Generation gibt es
       Zuspruch: das ist eine große Freude für mich, wenn 16- oder 20-Jährige sich
       für meine Musik begeistern.
       
       Gibt es beim Schreiben Ihrer Stücke Kategorien, in denen Sie Musik denken? 
       
       Hm, was soll ich da sagen? Wenn ich Musiken „schreibe“, muss ich aufpassen,
       dass der Kopf leer ist und dass ich nur meinem Herz folge. Ich muss ganz
       wach sein, um es so machen zu können, wie ich meine, dass das Stück selbst
       es verlangt. Also ohne Fragen im Kopf wie „Was muss jetzt kommen?“ oder
       „Müsste jetzt nicht das und das geschehen?“.
       
       So wie ein Popmusiker eine Zeitvorgabe im Kopf hat, wie lang ein Song zu
       dauern hat? 
       
       Ja. Aber dort gibt es auch viele Vorbilder. Gerade in der Popmusik gibt es
       viele wunderbar strukturierte Kompositionen, die wirklich überzeugend sind
       von ihrer Machart her. Aber das ist nicht meine Arbeit, das sind zwei
       völlig verschiedene Welten.
       
       Gibt es im Pop heute etwas, das sie begeistert? 
       
       Ja natürlich! Ich könnte da manchmal hinrennen und den oder die Komponisten
       oder Komponistin umarmen. Klar gibt es Perlen in der Popmusik. Aber selten.
       Das meiste ist sich sehr ähnlich. Man merkt, dass der eine den anderen
       nachmacht. Andererseits: Nach all dem, was in der Kunst schon passiert ist,
       darf man auch nicht danach verlangen, dass jeden Tag etwas wunderbares
       Neues geschieht.
       
       Bei den „Lifelines“ werden Sie als Gesamtkunstwerk angekündigt. Passt das? 
       
       Es klingt ein bisschen überkandidelt, aber ist richtig. Ich schreibe ja
       neben und zu der Musik auch noch Texte, und ein bildnerisches Werk gibt es
       auch. Ich bin als Künstler auch politisch, auch wenn ich nicht auf die
       Straße gehe und demonstriere, etwa jetzt gegen die Flüchtlingsfeinde. Aber
       ich bin natürlich im Herzen mit den Flüchtlingen. Man kann diesbezüglich
       nur mit Freunden und Familie ein Gegengewicht schaffen, in der Art, wie man
       lebt, wie man sich verhält gegenüber anderen. Ich selbst bin im Krieg
       aufgewachsen, mit Bomben groß geworden. Später saß ich im Gefängnis, die
       Stasi hatte mich in der Mangel. Da mein Werk mit all diesen Erfahrungen zu
       tun hat, ist Gesamtkunstwerk der richtige Ausdruck. Ich weiß sehr genau,
       was einem alles passieren kann im Leben.
       
       1 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
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