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       # taz.de -- Helge Schneider wird 60: Kerzen auf der singenden Herrentorte
       
       > Aller Blödelei zum Trotz ist er vor allem ein sensibler Künstler mit viel
       > Feingefühl: ein Ständchen auf Helge Schneider zum 60. Geburtstag.
       
   IMG Bild: Helge Schneider in Aktion.
       
       „Gestern war ich im Urlaub gewesen, und zwar ganz hier in der Nähe! Der Ort
       heißt Ostsee. Da kann man schwimmen gehen und auch einen Strandkorb mieten.
       Der Strandkorb ist groß genug für zwei. Doch auch zu dritt kann man darin
       sicherlich sitzen. Ich habe aber beides nicht ausprobiert, denn alle
       Strandkörbe waren schon abgegeben“.
       
       Dieser kleine Auszug aus einem von Helge Schneider verfassten Brief zeigt
       wunderbar seine für ihn typische, genial-kindliche Art der Pointenbildung.
       Mit diesen immer laut nach dem Faden suchenden, immer unerwartet schräg und
       abrupt abbiegenden Erzählungen revolutionierte „der Helge“ den Humor in
       Deutschland.
       
       Ja, über die eigene Langeweile und die daraus resultierende Pointengeilheit
       am Rande des Wirtschaftswunders hatte man so noch nicht gelacht.
       
       Dass diese meist improvisierten, humoristischen Textausflüge ihren Anfang
       tatsächlich als Ansagen von Jazzmusik bei Helge Schneiders Livekonzerten
       fanden, macht ihn noch sympathischer, gerade im Vergleich zu den vielen
       aalglatten und ehrgeizigen Witzbolden der in den Neunzigern aufkeimenden
       Comedyszene im Land.
       
       ## Harte Arbeit
       
       Weil Helge Schneider eben mehr oder wenig zufällig zu einem so großen
       Humoristen wurde. Zumindest will man das als Fan nur allzu gerne glauben.
       Von Beharrlichkeit und Fleiß will man da nichts wissen. Und von harter
       Arbeit schon gar nicht. Schon in den Achtzigern erspielte er sich
       allerdings als „Helge Schneider & Hardcore“ einen exzellenten Ruf über das
       Ruhrgebiet hinaus, wo er 1955 in Mülheim an der Ruhr geboren wurde.
       
       Zusammen mit dem Organisten Buddy Casino und dem Schlagzeuger Peter Thoms
       bot er damals eine so noch nie dagewesene Show aus Jazzstandards und
       eigenen Liedern, die sowohl von Funpunk und New Wave, als auch vom Schlager
       eines Peter Alexander beeinflusst war.
       
       Während Kollegen wie Stefan Raab oder Dieter-Thomas Kuhn sich für ihren
       Retroschlager in glitzernde 70er-Jahre-Showanzüge einzwängen ließen, die
       vor allem an Ilja Richters ZDF-Show „Disco“ erinnern sollten, musste man
       bei den Auftritten von Helge Schneider schon eher ans Zürcher Cabaret
       Voltaire denken. Oder die Assoziationen flogen zur „Bude um die Ecke“ – der
       schon damals günstigsten Alternative, sich mit Freunden in öffentlichen
       Räumen zuzuschütten. Das erlebt ja gerade, nebenbei bemerkt, als Cornering
       unter jungen Hipstern europaweit eine Renaissance.
       
       ## Mehr Erfolg, kleinere Bühnen
       
       Helge Schneider schenkte aber nicht nur den Trinkern Aufmerksamkeit,
       sondern auch den Zeittotschlägern in den „Eduscho-Stehcafes“. Er
       produzierte schon Ende der Siebziger wunderbare Hörspiele in
       Heino-Jaeger-Manier, in denen alle Stimmen von ihm selbst eingesprochen und
       rauf- und runtergepitcht wurden: Damen, Herren, abgefuckte Paare,
       Draufgänger, Verbrecher und viele andere „Originale“, wie man damals noch
       liebevoll zu Idioten sagte.
       
       1992 nimmt seine Karriere dann Fahrt auf: Damals erscheint mit „Guten Tach“
       ein erstes Erfolgsalbum mit bereits bekannten Liedern aus den Liveshows. Im
       Jahr darauf startet „Texas“, Helge Schneiders Trash-Western in den Kinos
       und bald darauf spielt er vor einem Millionenpublikum in der ZDF-Sendung
       „Wetten, dass … “ seinen größten Hit: „Katzeklo“.
       
       Daraufhin strömen Zehntausende zu seinen Konzerten. Hallen werden immer
       größer, Fans zunehmend ungeduldiger. Helge Schneider geht jedoch einen
       Schritt zurück. Anders als Mario Barth, tritt er fortan nur noch auf
       kleineren Bühnen und in kleineren Clubs auf. Dafür dann gerne mehrere
       Abende hintereinander weg: Etwa im Berliner Admiralspalast, wo er mehrfach
       einen ganzen Monat lang gastierte.
       
       ## Stets die Medienapparate versorgt
       
       Bei aller Blödelei ist Helge Schneider vor allem ein sensibler Künstler,
       der mit viel Feingefühl ausgestattet ist. Und in der Bandmusik gilt nun mal
       auch die Empathie mit den Mitmusikern und seinem Publikum als
       entscheidender Faktor. Und nicht zuletzt die Geduld, damit im Raum der
       Möglichkeiten etwas Spannendes entstehen kann, etwas, das eben nur
       justamente entstehen kann.
       
       Helge Schneider hat es dennoch bestens verstanden, die Medienapparate von
       Musikindustrie bis Literaturbetrieb mit anständiger Konservenware zu
       versorgen. Und in seinen Kooperationen mit anderen Künstlern, von Sido bis
       Rocko Schamoni, von Christoph Schlingensief bis Walter Moers, nimmt er
       immer genau die Rolle ein, von der sich der mediengestählte Mensch die
       originellen Störelemente ersehnt. Einen unerwarteten Twist im
       durchformatierten Format! Da reicht es mitunter, wenn Schneider in einer
       Talkshow nur doof herumsitzt.
       
       Aber klar: Gerade eine Figur wie Helge Schneider kann in der Öffentlichkeit
       gar nicht mehr nicht kommunizieren! In jedem Zeichen entdeckt der Fan eine
       komische Komponente.
       
       Erstaunlich allerdings, dass diese besondere Humorposition in der
       Bundesrepublik in jeder Generation anscheinend immer nur von einer
       Künstlerfigur besetzt werden kann (vor Schneider etwa von Heinz Erhardt und
       Otto Waalkes), während allein in den USA jedes Jahr aus den
       Stand-Up-Comedy-Clubs zig Talente in den Fernsehshows mit Humorupdates für
       Gelächter sorgen.
       
       ## Immer wieder Auszeiten
       
       Nur verständlich, dass Helge Schneider sich immer wieder von diesem auf ihm
       lastenden öffentlichen Erwartungsdruck erschöpft fühlt und sich Auszeiten
       nimmt. Umso größer die Freude bei jedem „Comeback“. Unter diesen Vorzeichen
       war es fast schon selbstverständlich, dass Schneider 2007 in Dani Levys
       Filmsatire „Mein Führer“ die Rolle des Adolf Hitler übernehmen musste: Ja,
       auf wen hätte die Wahl denn bitteschön in diesem Land sonst fallen sollen?!
       
       Am Sonntag wird Helge Schneider 60 Jahre alt und seine Plattenfirma
       veröffentlicht aus diesem Anlass zwei opulente Boxen namens „Sammlung
       Schneider“. Der große Kanon also. Warum sie das Werk nicht als hochwertige
       Vinyl-Boxen herausbringen, soll für immer Geheimnis bleiben.
       
       Jedenfalls enthält die eine CD-Box alle Studio- und Liveaufnahmen und die
       andere alle Hörbücher und Hörspiele. Jeweils aufgeblasen mit unerhörtem
       Bonus-Material und versehen mit von Helge Schneider neu gestalteten Covern.
       Das perfekte Geschenk für alle, die zwar schon alles haben, aber nach
       unveröffentlichtem, neuem Material lechzen.
       
       ## Drück die Maus
       
       Übrigens treibt Helge Schneider auch im Internet seine Späße. Auf seinem
       YouTube-Kanal „Helgeshow“ stellt er regelmäßig Musikimprovisationen und
       Gags ins Netz. Auf YouTube funktioniert er allerdings nur bedingt. Etwas
       für ein imaginiertes Publikum aufzunehmen, in einer Kameraeinstellung, ist
       für einen wie Schneider eben doch etwas ganz anderes, als es vor zahlendem
       Publikum live aufzuführen.
       
       „Ich sitz’ zu Haus und drück die Maus“, hieß es 1997 weitaus bissiger bei
       einer irrsinnig guten Techno-Persiflage auf seinem Album „Da Humm!“. 6.485
       Abonnenten zählt „der albernde Helge“ gegenwärtig auf seinem YouTube-Kanal.
       Zum Vergleich: Die deutsche Vorzeige-YouTube-Blödel-Truppe Y-Titty hat weit
       über drei Millionen. Egal. Der unnachahmlichen „singenden Herrentorte“ wird
       der Fan in jedem Medium bis an sein Lebensende die Treue halten. Und wer,
       wenn nicht „Kommissar 00 Schneider“ kann in diesem Land die wirklich
       brisanten Fälle lösen?!
       
       In dem eingangs zitierten Brief mit der Überschrift „Ein Nickerchen kann
       man keinem verwehren“ geht es übrigens folgendermaßen weiter: „Was sollte
       ich tun? Ich ging ein bisschen weiter am Strand entlang. Da sah ich ein
       paar Enten auf dem Wasser. Es war ein guter Anblick. Ich schaute ihn mir
       an. Dann wollte ich schnell dahin gehen und wäre beinahe hingefallen. Man
       soll eben nicht schneller gehen, als man kann …„
       
       30 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Maurice Summen
       
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