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       # taz.de -- Regisseur über Film „Jauja“: „Ein Gedicht in meinem Kopf“
       
       > Die Langsamkeit, die Farben, das Licht – mit allem baut der argentinische
       > Regisseur Lisandro Alonso eine andere, eine vormoderne Welt.
       
   IMG Bild: Viggo Mortensen als dänischer Reisender in „Jauja“, der die Reihe „Nuevo cine argentino“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt eröffnet.
       
       taz: Herr Alonso, bisher haben Sie mit nichtprofessionellen Darstellern
       gearbeitet. Wie kamen Sie auf die Idee, mit Viggo Mortensen zu drehen? 
       
       Lisandro Alonso: Das Drehbuch schrieb ich zusammen mit Fabián Casas, einem
       argentinischen Schriftsteller, der eng mit Viggo befreundet ist. Dank
       dieser Verbindung dachten wir darüber nach, ob Viggo nicht die Hauptrolle
       spielen könnte. 2006 lernte ich ihn beim Filmfestival von Toronto kennen,
       und er war so sehr mit Argentinien verbunden, so höflich, liebenswert und
       spontan, dass ich seither überlegte, wir könnten vielleicht einmal etwas
       gemeinsam machen.
       
       Es dauerte dann sehr lange, bis „Jauja“ entstehen konnte. Woran lag das? 
       
       Einmal an der Finanzierung. Dann aber auch daran, dass ich es nicht so
       eilig hatte. Meinen letzten Film hatte ich 2008 fertiggestellt und ich war
       danach ziemlich erschöpft. Ich entschloss mich, meine Energien eine Weile
       nicht auf das Kino zu lenken. Ich heiratete, bekam ein Kind, arbeitete auf
       dem Land. Als wir dann mit dem Drehbuch anfingen und Kontakt zu Viggo
       aufnahmen, hatte er einen komplizierten Terminkalender, er drehte andere
       Filme, und das bedeutete, dass wir fünf, sechs Jahre brauchten. Wobei,
       richtig los ging es erst im Juli 2012, da habe ich nämlich den letzten Teil
       von „Jauja“, den, der in Dänemark spielt, gedreht, und dann musste ich noch
       mal warten und Geld auftreiben, bevor ich im April 2013 den Rest in
       Argentinien drehen konnte.
       
       Wenn ich „Jauja“ mit Ihren vorangegangenen Filmen vergleiche, gibt es zwar
       einige Gemeinsamkeiten – etwa dass ein Einzelner sich auf eine Reise mit
       unsicherem Ausgang begibt –, aber auch Unterschiede. Zum Beispiel der
       Zeitrahmen, dass der Film am Ende des 19. Jahrhunderts spielt. War das eine
       Herausforderung? 
       
       Nein, eigentlich nicht. Ich hatte ja Leute, die mich unterstützten, was
       Kostüme, Make-up und insgesamt das Herstellen des historischen Eindrucks
       anging. Das sind ja nur Elemente, ein bisschen Kleidung, ein bisschen
       Akzent, eine Spur von Verfremdung.
       
       Warum war denn dieser spezifische historische Augenblick für Sie
       interessant? Und dieser Ort, Patagonien? 
       
       Ich hatte das Gefühl, dass es mehr Schauspiel geben sollte als in meinen
       anderen Filmen. Und als dann klar wurde, dass es sich um einen Schauspieler
       von Format handeln würde, dachte ich, dass es besser sei, ihn aus der
       Gegenwart herauszulösen, ihn in eine Fabelwelt zu versetzen. Um die
       Geschichte von einem Vater, der seine Tochter in der Einöde verliert, zu
       erzählen, war es am besten, dass die beiden an einer Expedition teilnehmen.
       Wäre es eine Reise in der Gegenwart, im Auto, gewesen, dann hätte es all
       die Gefahren nicht gegeben, die Indios zum Beispiel.
       
       Für Argentinien ist es ein besonderer Moment: die Landnahme, die
       Besiedelung, die Auslöschung der Indígenas, die diesen Prozess begleitete. 
       
       Wir wollten den Film in diesem historischen Kontext verorten, aber zugleich
       wollten wir diesen Kontext nicht zu offensichtlich machen, weil uns das von
       dem, was uns eigentlich interessierte, entfernt hätte. Und das war, die
       Geschichte so zu erzählen, als wäre sie ein Gedicht in meinem Kopf.
       
       Dafür finden Sie, was die Farben, die Position der Figuren im Bild oder den
       Schnitt angeht, überaus sorgsam komponierte Bilder. 
       
       Vor dem Dreh arbeite ich das nicht aus. Ich weiß, wo wir jede Sequenz
       filmen, aber solange ich nicht mit dem Kameramann am Set bin und die
       Lichtverhältnisse einschätzen kann – von wo kommt das Sonnenlicht, worauf
       fällt es, wann verschwindet es? –, entscheide ich nichts. Einmal dort,
       denke ich über die Optionen nach, spreche darüber mit dem Kamera- und dem
       Tonmann, wir stellen die Kamera auf, ich sorge dafür, dass die Szenen
       ziemlich statisch werden, vor allem in diesem Gelände in Patagonien. Was
       die Farben angeht, so gehen sie ins Extrem. Das liegt daran, dass der
       Kameramann …
       
       … Timo Salminen, der oft mit Aki Kaurismäki gedreht hat … 
       
       … hartes, übertriebenes Licht mag. Dadurch lässt er die Fiktion sprechen
       statt die Realität. Ihm gefallen das klassische Kino, die Studiofilme aus
       Hollywood, und mir erschien dieser Zugang genial, weil wir mit Studiolicht
       und mit Dialogen, die etwas leicht Theatralisches haben, eine eigene Welt
       erschaffen.
       
       Sie arbeiten auch sehr bewusst mit dem Verhältnis zwischen dem, was
       onscreen, also im Bild, und dem, was offscreen, also jenseits des
       Bildausschnitts ist. Zum Beispiel in der Szene, in der der Soldat und die
       Tochter sich küssen und dabei langsam nach unten aus dem Bild sinken.
       Nachdem sie verschwunden sind, sieht man lange Gras, ein Pferd, im
       Hintergrund einen Hügel. 
       
       Ich denke gar nicht so viel darüber nach, wie ich die Dinge mache. Sie
       entstehen. In diesem Fall wollte ich nicht, dass man die beiden nackt
       sieht, aber zugleich versteht: Die beiden haben jetzt Sex, es wird eine
       Weile dauern, es ist der Vollzug einer Verbindung, die sie schon lange im
       Verborgenen haben.
       
       Wie kommt es zu der außergewöhnlichen Bildratio, 1,33:1? Und zu den
       abgerundeten Ecken, die an ein Diapositiv erinnern? 
       
       Der Film war für die Bildratio 1,85:1 gedacht, aber im Schneideraum fing
       ich an, mit 1,33:1 zu experimentieren, das gefiel mir viel besser. Mit
       1,85:1 habe ich bisher immer gearbeitet, aber es lässt eher an eine
       Narration denken, an Plasma-Bildschirme, Leinwände. Und Viggo Mortensen,
       ein Revolver, Speere, Indios und Pferde könnten ein potenzielles Publikum
       täuschen, so dass es denkt, „Jauja“ sei ein Actionfilm.
       
       Ein Western? 
       
       Genau. Wäre das Publikum erst einmal auf diese Spur gekommen, wäre es, so
       meine Sorge, nicht mehr in der Lage, sich im Kopf davon freizumachen. Durch
       das 1,33:1-Format sieht es den Film mit anderen Augen, es fühlt sich an ein
       anderes Kino und an andere Geschichten erinnert, auch an ein anderes Tempo:
       statisch, Dias, nicht so modern … Es ist außerdem malerischer, schöner,
       mehr wie ein Gemälde.
       
       Was hat Sie an den Landschaften gereizt? 
       
       Die Möglichkeit der Veränderung. Am Anfang steht das Meer, ein Ausländer
       reist im Boot, kommt an, auf einem Pferd geht es weiter, es gibt eine
       Grenzlinie, er überschreitet sie, betritt anderes, felsigeres Gelände, und
       ich glaube, wenn er dann zu Fuß geht und zu diesem schwarzen Boden gelangt,
       dann spürt das Publikum unbewusst diese Wegstrecke. Die jeweiligen Orte
       künden vom Niedergang des Protagonisten; er verliert die Tochter, sein
       Pferd, das Gewehr, er ist schutzlos und allein, bis ihn der Boden
       verschluckt. Ganz davon abgesehen, sind es Orte, die mich begeistern, ich
       würde sie auch filmen, wenn niemand im Bild wäre, aber ich brauche Figuren
       als Vorwand.
       
       Die Handlung schreitet klar und leicht lesbar voran – bis zu einem gewissen
       Punkt. Ab dann wird es vertrackt. Warum wollten Sie das so? 
       
       Weil die Welt so ist. Alles ist sehr komplex. Und der Film fragt: „Was gibt
       uns die Kraft, damit ein Leben funktioniert und fortschreitet?“ Ich weiß es
       nicht. Neugier vielleicht, auf uns selbst und auf andere. Die Geschichte
       entstand, weil eine Freundin von mir sich verliebte und auf die Philippinen
       zog, eine Filmkritikerin …
       
       Sie waren befreundet? 
       
       Sie kennen die Geschichte?
       
       Ja. Die slowenische Kritikerin Nika Bohinc und ihr Freund Alexis Tioseco,
       auch er ein Filmkritiker, wurden 2009 bei einem Raubüberfall in ihrem Haus
       in Manila getötet. 
       
       Ich habe damals eine E-Mail bekommen und gedacht: „So ist das? So einfach?“
       Bis heute kann ich es nicht glauben. Wie muss das für den Vater, für die
       Mutter gewesen sein, als sie in ein Flugzeug stiegen, um auf den
       Philippinen einen toten Körper abzuholen? Ich habe dann angefangen, ein
       wenig zu recherchieren. Wenn Eltern ein Kind verlieren, können sie das zwar
       überleben, aber niemals … die Situation ist sehr kompliziert. Verheddert.
       Wenn ich davon erzählen wollte, dann würde das dem Film etwas Merkwürdiges
       geben. Einen Raum für die Fantasie oder das Unbewusste: Passiert das jetzt
       wirklich? Oder passiert es nicht?
       
       Vor einigen Jahren las ich einen Roman von César Aira, „Die Mestizin“. Ich
       habe einiges aus dem Buch im Film wiedererkannt. 
       
       Sie sind nicht die Erste, die mir das sagt. Ich habe das Buch nicht
       gelesen. Ich weiß, dass César Aira ein sehr guter Schriftsteller ist, und
       er ist ein guter Freund von dem Drehbuchautor Fabián Casas, vielleicht hat
       Fabián das Buch gelesen, und die Verbindung rührt daher.
       
       Es ist wirklich ein tolles Buch, die Lektüre lohnt. 
       
       Das sagt mir jeder. Aber ich bin ein schlechter Schüler. Nie habe ich Zeit
       zum Lesen.
       
       10 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Cristina Nord
       
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