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       # taz.de -- Musik in New Orleans: Jazz bei kreolischen Cocktails
       
       > Livemusik hört man hier an jeder Ecke. Nicht einmal ein Desaster wie
       > „Katrina“ vor zehn Jahren konnte der Stadt ihren Schwung nehmen.
       
   IMG Bild: Eine Musikprozession durch die Stadt anlässlich des zehnten Jahrestages der Verwüstung durch den Hurrican Katrina.
       
       Da ist wieder so ein Pulk Leute, wie fast an jeder Ecke im French Quarter.
       Worum man sich schart, bleibt nicht verborgen. Aus den Menschengruppen
       schallt Musik – sehr selbstbewusst und sehr laut. Der Trichter mindestens
       einer Tuba ragt hervor, trägt den Bass über die Köpfe hinweg. Zuschauer
       wippen mit den Füßen, tanzen mit. Nur mal kurz stehen bleiben, so viel Zeit
       muss sein. Sie vergessen Termine, Besuchsprogramm, schlechte Laune. Wer
       Zeit hat, wechselt von einer Band zur nächsten, immer der Musik nach.
       
       Miese Straßenmusik könnte sich in New Orleans gar nicht halten. Für die
       Dollarscheine, die reichlich flattern, haben die Musikanten Eimer oder
       Kartons aufgestellt. Hauptsache, es sieht spontan aus, unvorbereitet, nicht
       nach einem Jobkonzept – auch wenn es natürlich eins ist. Eine Welt ohne
       Musik wäre arm, aber ein Leben ohne Geld auch. Vor allem in einer Stadt, in
       der die Schere zwischen Arm und Reich seit „Katrina“ immer weiter aufgeht.
       Als Vorwand zum Betteln werden Musikinstrumente in New Orleans aber nie
       gebraucht. Die Straßen sind vielmehr Arbeitsplätze für Berufsmusiker, von
       Passanten finanziert.
       
       Louis blättert konzentriert Dollarnoten von einer in die andere Hand. Man
       darf ihn jetzt nicht stören, schließlich muss nachher geteilt werden. Nicht
       nur mit Rob und Chris, die neben ihm sitzen. Der Rest der vielköpfigen Free
       Spirit Brass Band lümmelt auf den Bänken nebenan oder macht Scherze,
       zwischendurch wird auch geschubst. Der Jackson Square im pittoresken French
       Quarter ist vermutlich die größte Bühne der Stadt.
       
       Die Musiker teilen sie sich mit Künstlern, die ihre Werke nonchalant an den
       historischen Zaun hängen, und Wahrsagern, die an Campingtischchen
       Tarotkarten legen und mit Voodoo für den Hausgebrauch aufwarten. „Wir haben
       einen ganz normalen Achtstundentag“, meint Louis. „Allerdings nicht nine to
       five, sondern twelve to eight.“ Danach treten sie noch in Clubs auf. Dazu
       kommen Events, Hochzeiten und Second Lines, wie die berühmten Paraden mit
       Blasmusik, Sonnenschirmen und Tanzenden heißen, die man sich im modernen
       New Orleans ganz einfach über Agenturen buchen kann.
       
       ## Musik lohnt sich
       
       „Ich verdiene doppelt so viel wie mit anderen Jobs“, erzählt der 27 Jahre
       alte Rob stolz. Angefangen hat er damit aber aus einem ganz anderen Grund.
       Vor fünf Jahren wurde ein Freund ermordet, der Straßenmusiker war: „An
       seiner Beerdigung habe ich beschlossen, dass ich das für ihn weitermache,
       im Gedenken.“ Musik ist in dieser Stadt Grund für Emotionalität und
       Auslöser für Lebensentscheidungen, Verdienstmöglichkeit, kultureller Stolz,
       aber auch einfach eine Selbstverständlichkeit.
       
       Gleich geht’s für die Band weiter in die Bourbon Street, die von Touristen
       meistfrequentierte Amüsier- und Kneipenstraße. Selbst tagsüber sieht man
       hier Besucher mit „Hand Grenades“ herumschlendern, dem angeblich stärksten
       Drink der Stadt. Der Cocktail wird aus grellgrünen Plastikbehältnissen in
       Handgranatenform getrunken. Wahre Cocktailfans betrachten das mit
       Befremden, hat doch New Orleans viel charmantere Drinks zu bieten. Denn
       dank des experimentierfreudigen kreolischen Apothekers Antoine Peychaud
       gilt die Stadt nicht nur als Wiege des Jazz, sondern auch als Wiege der
       Cocktails – zumindest aus New Orleaner Sicht.
       
       Natürlich gibt es hier auch alte Kirchen, hübsche Häuser, geheimnisvolle
       Friedhöfe, lehrreiche Museen, mahnende Denkmäler – alles vorhanden. Da sind
       die Kolonialbauten in der Altstadt, die schmalen Shotgun Houses in Marigny,
       die Villen im Garden District – zum Verlieben. Die schmiedeeisernen
       Balkonverkleidungen, die Straßenpfosten mit Pferdeköpfen,
       Schaufelraddampfer, historische Straßenbahnen, Wachsfigurenkabinett,
       Aquarium und Zoo.
       
       ## Der New Orleans Mix
       
       Doch die wahren Sehenswürdigkeiten der Stadt werden ganz klar in Hertz
       gemessen. Ob in der Hotellobby, beim Frühstücksbuffet, in der Bar oder im
       Club – an hundertzwanzig Orten quer durch die Stadt treten regelmäßig Bands
       auf, die Straße nicht mitgerechnet. Konzertgänger werden im berühmten, aber
       touristischen French Quarter genauso fündig wie in der boomenden Frenchmen
       Street oder an Adressen, die fast nur Einheimische kennen.
       
       Dabei geht es beileibe nicht nur um Jazz. Sowohl traditionelle wie auch
       aktuelle Stile werden geboten, Hauptsache, es ist live. Dass in New Orleans
       schon seit jeher die Musik den Takt vorgibt, soll am kulturellen Mix aus
       Afroamerikanern, Kreolen und europäischen Einwanderergruppen liegen.
       
       Im Palm Court Jazz Café im French Quarter spielt gerade lautstark die
       Hausband, mit Kontrabass, Saxofon, Posaune, Trompete, Schlagzeug und einem
       Steinway-Flügel. Das Publikum sitzt um gedeckte Tischchen herum, trinkt
       lokales Bier und lässt sich das kreolische Essen schmecken: Shrimps mit
       Ingwer und Sesam, frittierte Austern, Chicken Gumbo. Unterhalten ist
       ohnehin nicht möglich. Im Hintergrund stehen Leute an einer mächtigen
       Mahagonibar, die meisten Gäste sind mindestens Rentner. Trotzdem wird
       spontan und mittendrin getanzt.
       
       ## Damals , als der Hurrican kam
       
       Darunter ein Paar über neunzig. Die beiden können sich nur ganz langsam
       bewegen, aber die Erinnerung galoppiert. Sie legen die Köpfe aneinander und
       denken an früher. Offensichtlich ist einer der Herren im Publikum eine
       Berühmtheit. Die Wirtin holt ihn auf die Bühne, die er den Rest des Abends
       nicht mehr verlässt. „Bob Wilber is in town!“ Der 87-jährige
       Jazz-Saxofonist ist weltberühmt und für das Jazz and Heritage Festival in
       der Stadt, das jedes Jahr Hunderte internationale Musiker sowie bis zu
       450.000 Besucher nach New Orleans zieht. Das Bühnenprogramm endet bewusst
       am frühen Abend, damit sich die Fans danach noch durch die Clubs hangeln
       können.
       
       Nina Buck, mit bodenlangem Kleid, blond gefärbten Haaren und ein paar
       Drinks zu viel ist ganz aufgelöst vor Rührung, lobt ständig die Musiker.
       Sie hat das Jazzcafé vor 25 Jahren eröffnet. Eigentlich nur, weil ihr Mann
       George oben ein Aufnahmestudio hatte und ihr der Raum gefiel. Auch wenn es
       anfangs nur ein kleiner Coffeeshop war, gab es selbstverständlich
       Livemusik. Dieses Jahr geht die Hausband zum ersten Mal seit
       „Katrina„wieder auf Tour, auch nach Deutschland.
       
       Der Hurrikan vor fast zehn Jahren traf New Orleans, als sie gerade in
       Europa auftraten. Nina hatte Glück, nur das Dach musste neu gedeckt werden.
       Schon zwei Monate später eröffnete sie wieder: „Ich wollte weitermachen,
       auch wenn es nicht viele Gäste gab. Es vermittelte den Leuten das Gefühl,
       dass zumindest etwas lebt.“ Das French Quarter gehörte zu den zwanzig
       Prozent der Stadt, die nicht überflutet wurden. Da dieses Viertel der erste
       Anlaufpunkt für Touristen ist, merken sie von den Nachwehen wenig.
       
       ## Die Stadt wurde gentrifiziert
       
       Doch nimmt man sich ein Taxi und schaut sich andere Viertel an, finden sich
       Holzhäuser, Ruinen gleich, deren Besitzer noch im Jahr neun nach
       „Katrina„nicht zurückgekommen sind. Manchen fehlt dafür schlicht das Geld,
       sowohl für das Retten des Hauses, oft aber schon für das Flugticket. Denn
       bei der Evakuierung wurden die Leute weit über die USA verteilt. Viele
       haben dort Jobs angenommen, weil sie lange nicht zurückdurften, sie wären
       zu Hause arbeitslos.
       
       Man wertet es als Erfolg, dass über die Hälfte der Stadtviertel wieder zu
       mehr als neunzig Prozent bewohnt sind. Die Stadt ist kleiner, weißer und
       reicher geworden. Die Einwohnerzahl liegt bei 369.000, vor „Katrina„waren
       es 450.000. Der Anteil der Schwarzen sank von 67 auf 59 Prozent.
       Wirtschaftlich eilt die Stadt voran, die Immobilienpreise steigen, weil
       viele Käufer von außen kommen. Ärmere Einwohner tun sich schwer.
       
       Die staatlichen Wiederaufbaugelder wurden auch in die Infrastruktur und ins
       Erscheinungsbild gesteckt, sodass sich New Orleans heute über weite Teile
       sanierter, schöner und sicherer zeigt denn je. Die Zahl der Touristen
       steigt beständig, hat mit 9,52 Millionen für 2014 fast wieder die
       Rekordzahl von zehn Millionen aus dem Jahr vor „Katrina„erreicht.
       
       ## The Big Easy
       
       Unten am Mississippi liegt der Schaufelraddampfer „Natchez“ vor Anker. Noch
       bevor man ihn sieht, hört man die Dampforgel. Der Wind trägt die Melodien
       hinauf bis zum French Market und hinüber auf die andere Seite des Flusses.
       Es klingt schrill und schräg, aber gleichzeitig weich und sehr nach
       Jahrmarkt. Debbie Fagnano steht mit Stöpseln in den Ohren auf dem Oberdeck
       und greift in die Tasten, immer bevor das Schiff ausläuft. Miss Calliope,
       also Frau Dampforgel, steht auf ihrem Ansteckschildchen. „Meinen
       italienischen Namen können die Besucher nicht aussprechen“, meint sie und
       lacht. Frau Dampforgel ist studierte Musikerin und vielleicht der beste
       Beweis dafür, dass das musikalische Können in New Orleans überall zählt,
       auch auf einer so touristischen Einrichtung.Die 60-Jährige wechselt
       zwischen der Orgel in einer Kirche und der Dampforgel auf der „Natchez“ hin
       und her. Für die Organistin ist Zweiteres natürlich ein piece of cake, wie
       sie sagt. Die Klaviatur ist klein, auch Fußpedale gibt es keine. Was ihre
       Liebe für die Sache kein bisschen schmälert. Sie kennt Hunderte von
       Liedern, die Noten hat sie im Kopf. Was sie spielt, weiß sie selten vorher.
       Sie lässt sich inspirieren: vom Wetter, von Events, von den Leuten am Kai,
       die ihr zuwinken. Heute ist die deutsche Journalistin Debbies
       Inspirationsquelle, und so schallt über New Orleans das lustige Liedchen
       „Mein Vater war ein Wandersmann“. Irgendwie will das nicht so recht zum
       Geburtsort des Jazz passen, aber da New Orleans auch „The Big Easy“ genannt
       wird, sieht man das vermutlich locker.
       
       12 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anja Martin
       
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