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       # taz.de -- Filmfest in Venedig: Der Goldene Löwe verblasst
       
       > Die Filmfestspiele von Venedig setzten dieses Jahr besonders auf
       > essayistische Formate. Insgesamt war der Wettbewerb aber eher schwach.
       
   IMG Bild: Mit seinem Filmdebüt gewinnt der Regisseur aus Venezuele direkt den begehrten Filmpreis
       
       VENEDIG taz | Mit einer überraschenden Entscheidung ist am Samstagabend in
       Venedig die 72. Mostra internazionale d’arte cinematografica zu Ende
       gegangen. Den Goldenen Löwen erhält „Desde allá“ (“From Afar“), ein
       Spielfilmdebüt aus Venezuela. Der Regisseur Lorenzo Vigas, 1967 geboren,
       hat bisher Dokumentationen für das Fernsehen und einen kurzen Spielfilm
       gedreht. In „Desde allá“ erkundet er die Beziehung zwischen Armando, einem
       Mann um die 50, der eine kleine Firma für die Fertigung von Gebissen
       betreibt, und Elder, einem vielleicht 18 Jahre alten Eckensteher.
       
       Armando bezahlt Männer wie Elder dafür, dass er aus einigen Metern Abstand
       ihren nackten Rücken und Po betrachtet, während er masturbiert. Als Elder
       zum ersten Mal bei ihm ist, beschimpft er Armando als Schwuchtel, schlägt
       ihn und verschwindet mit dessen Brieftasche. Der Ältere sucht trotzdem
       seine Nähe, vielleicht, weil ihn die Gewalttätigkeit des jungen Mannes
       anzieht, vielleicht, weil er einen anderen Plan verfolgt und ahnt, dass er
       Elder manipulieren und dessen hitziges Temperament ausnutzen kann.
       
       Die Motive, die die Figuren in „Desde allá“ antreiben, bleiben im Vagen.
       Armandos Familiengeschichte umweht ein Geheimnis. Es gibt ein paar
       Andeutungen und Hinweise auf eine Missbrauchserfahrung. Dass Vigas nicht
       konkreter wird, mag man, das wird die Jury unter Vorsitz von Alfonso Cuarón
       sicher getan haben, für subtil halten, es birgt aber auch ein Risiko.
       
       Wo nichts konkretisiert, geerdet, mit Details gefüllt wird, entsteht der
       Eindruck eines seltsam luftleeren Raums. Dazu passen die matten Farben, die
       kraftlos, gedämpft wirkenden Bilder und der Mangel an Dialog. Die
       Verstocktheit der Figuren greift auf den Film über. „Desde allá“ ruht sich
       auf Formeln aus, die sich in den letzten 12, 15 Jahre im Weltkino
       entwickelt haben.
       
       ## Schwaches Programm, stärkere Konkurrenz
       
       Wenn ausgerechnet dieser Film den Goldenen Löwen bekommt, so ist dies auch
       deshalb bedauerlich, weil es im diesjährigen, eher schwachen
       Wettbewerbsprogramm einige Beiträge gab, die sich ein bisschen mehr
       zutrauten. Amos Gitais Dokudrama „Rabin, the Last Day“ zum Beispiel. Es
       rollt die Umstände der Ermordung des israelischen Premierministers im
       November 1995 auf. In den nachgestellten Szenen fällt es zwar etwas hölzern
       aus, doch allein das Archivmaterial, das der israelische Regisseur
       zusammenträgt, macht den Film bemerkenswert.
       
       Besonders unheimlich sind die Bilder frenetischer Mengen, die gegen das
       Oslo-Abkommen demonstrieren und dabei „Death to Rabin“ skandieren. Gitais
       Film macht anschaulich, wie wichtig es ist, sich an Ereignisse, die in
       Vergessenheit zu geraten drohen, zu erinnern. Zu sehen, wie ungebremst sich
       der religiös gespeiste Hass gegen Rabin richtete, ist erschütternd, und
       nicht minder erschütternd ist, wenn der Film darlegt, wie nachlässig die
       Sicherheitskräfte den Premier am Abend des 5. November 1995 schützten,
       obwohl die Todesdrohungen allgegenwärtig waren.
       
       Marco Bellocchio zerschreddert in „Sangue del mio sangue“ (“Blood of my
       Blood“) den linearen Fortgang der Handlung. Unvermittelt springt er von der
       Zeit der Inquisition hinein in eine Groteske aus der italienischen
       Gegenwart. Dass er einen Fürsten, der vermutlich ein Vampir ist, zum
       Zahnarzt schickt, ist nur eine von vielen Pointen, die „Sangue del mio
       sangue“ zu einem tollen Beispiel nonchalenten Nonsens machen. Doch Gitai
       und Bellocchio gingen bei der Preisverleihung leer aus, genauso wie
       Alexander Sokurow, der in „Francofonia“ seiner Liebe zum Louvre ein
       essayistisch fließendes Denkmal setzt.
       
       ## Reich an Tiefpunkten
       
       Der schönste Film des Wettbewerbs, Charlie Kaufmans und Duke Johnsons
       „Anomalisa“, erhielt immerhin den Großen Preis der Jury. Die
       Stop-Motion-Animation hat ein wunderbares Gespür für die Absurditäten des
       Alltags und für das, was neurotisches Verhalten an Aberwitz hervorbringt.
       Wie Michael Stone, der Protagonist, Lisa, der Frau, mit der ihn ein
       One-Night-Stand verbindet, beim Frühstück sagt, wie sehr er sie liebe, und
       sie dann anherrscht, sie solle beim Essen nicht mit der Gabel an ihre
       Schneidezähne stoßen, ist einfach toll.
       
       Diese wenigen Ausnahmen machen nicht vergessen, dass der Wettbewerb an
       Tiefpunkten reich war. Es gab formelhafte Science-Fiction von Drake Doremus
       („Equals“), Edel-Nazi-Exploitation von Atom Egoyan („Remember“), Sue
       Brooks’ „Looking for Grace“, in dem man dummen Leuten auf dem flachen
       australischen Land dabei zuschaut, wie sie dumme Dinge tun, Piero Mesinas
       bleiernes Trauerdrama aus dem sizilianischen Hinterland, „L’attesa“, Tom
       Hoopers „The Danish Girl“, eine bieder erzählte Geschichte um einen
       transsexuellen Maler am Beginn des 20. Jahrhunderts, oder Jerzy
       Skolimowskis virtuos montierten, sonst erbärmlich klischeehaften Film „11
       minut“.
       
       Die Leitmotive, die hier und da auftauchten, etwa eine Vorliebe für
       zerstückelte Zeitabläufe, und der Ansatz, essayistischen Filmen sehr viel
       Raum zu geben, konnten nicht recht überzeugen. Wenn man am verriegelten
       Hotel des Bains oder an der seit Jahr und Tag reglos daliegenden Baugrube
       vor dem Casinò vorbeiradelte oder in einer Nachmittagspremiere in der nur
       halb gefüllten Sala Grande saß, konnte man sich des Eindrucks nicht
       erwehren, dass die Mostra bessere Zeiten erlebt hat.
       
       ## Mehr als Arthouse
       
       Die verhaltene Stimmung am Lido stand in seltsamem Kontrast zur
       Geschäftigkeit der Kunstbiennale, die zahlreiche Videoarbeiten von
       Regisseuren präsentiert, die auch in der Sphäre des Kinos zu Hause sind.
       Chantal Akerman, Steve McQueen oder Alexander Kluge sind – um nur ein paar
       Beispiele zu nennen – in der von Okwui Enwezor kuratierten Schau vertreten,
       dem 2014 verstorbenen Harun Farocki sind zwei Räume gewidmet, und in einem
       kleinen Pavillon im Garten des Arsenale wird der Film
       „Geschichtsunterricht“ (1972) von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet zum
       Teil einer Installation.
       
       Das mag nicht in jedem Fall geglückt sein, erinnert aber daran, dass
       bewegte Bilder noch andere Wege beschreiten können als die des gepflegten
       Arthouse-Kinos. Warum ist diese Vielfalt nicht auch auf einem Filmfestival
       wie der Mostra spür- und nachvollziehbar?
       
       Was man mit einer solchen Öffnung gewinnen würde, lässt sich zum Beispiel
       an Albert Serras schöner Arbeit „Singularity“ ermessen. Im katalanischen
       Pavillon weit hinter dem Arsenale hat Serra fünf Screens aufgestellt. Auf
       dem ersten läuft eine Art Trailer zu den jeweils dreistündigen Filmen, die
       sich auf die anderen vier Screens verteilen, wobei sich die Plansequenzen
       manchmal ineinander verhaken, dann nämlich, wenn eine Figur gleichzeitig
       auf zwei Screens zu sehen ist, in leicht verschobenen Situationen.
       
       ## Kunst bei Burger King
       
       Serra filmt am liebsten lange, ausufernde Konversationen zwischen den
       Akteuren, zu denen ein Künstler, Prostituierte und ein Minenbesitzer
       zählen. Er engagiert dafür die nichtprofessionellen Darsteller, die auch
       seine Kinofilme bewohnen, und zugleich beschäftigen ihn sichtlich Enwezors
       Ansätze, mit den Mitteln der Kunst über Arbeit, Produktionsbedingungen,
       Wertschöpfungsketten und Ausbeutung nachzudenken, ohne dass es forciert
       wäre.
       
       Und Jonas Mekas, der große Schelm des experimentellen Kinos? Den zieht es
       unter dem Titel „The Internet Saga“ in die einzige Burger-King-Filiale
       Venedigs, die sich ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt in einem Gebäude
       aus dem 16. Jahrhundert, dem Palazzo Foscari Contarini, befindet. In einer
       Ecke des kleinen Hofs lässt sich per Kopfhörer eine 70-minütige Symphonie
       aus New Yorker Straßengeräuschen verfolgen, „To Petrarca“, im ersten Stock
       befinden sich drei Flatscreens, die Ausschnitte aus Mekas’ umfangreichen,
       [1][auch online zu sehenden Videotagebüchern] zeigen.
       
       Die Gäste des Schnellrestaurants nehmen wenig Notiz davon. Wer in den
       Räumen Kunst guckt, statt Burger zu essen, kommt sich leicht wie ein
       Eindringling vor. Eine wunderbar listige Anordnung ist „The Internet Saga“
       gerade deshalb: ein Renaissancebau, gefüllt mit leicht zu reinigendem
       Schnellrestaurant-Mobiliar, ein Avantgardefilmemacher, dessen Werke alles
       andere als exklusiv sind, sondern im Netz verfügbar, ein Ort, den
       Biennale-Besucher habituell eher meiden würden, so wie die Gäste der
       Burger-King-Filiale sich wohl nicht in die Giardini oder ins Arsenale
       verirren. Im Palazzo Foscari Contarini wird ein alter Traum wahr, der von
       der Aussöhnung von High und Low.
       
       Nur am Samstagabend nicht: Da wurde die Übertragung der Videotagebücher
       unterbrochen, weil das Fußballspiel von Juventus Turin gegen Chievo Verona
       Vorrang hatte.
       
       13 Sep 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.jonasmekas.com
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Cristina Nord
       
       ## TAGS
       
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