URI: 
       # taz.de -- Die Wahrheit: Abgehängt
       
       > Kaum ist man 50 Jahre geworden, sozusagen Best Ager, versteht man die
       > schöne neue Welt der jungen Menschen schon nicht mehr.
       
       Spätestens mit dem fünfzigsten Jahre stellt sich beim alternden
       Staatsbürger eine irreversible Entfremdung von einer Welt ein, die sich
       immer schneller wandelt. Was gestern noch zu gelten schien, liegt heute auf
       der Müllhalde der Geschichte. Das Leben verfolgt man fortan nur noch wie
       ein völlig unverständliches Stück vom hintersten Platz des Theaters aus. Es
       ist dunkel, man versteht kein Wort. Ob Werte, Symbole oder Sitten – man
       blickt einfach nicht mehr durch.
       
       Die Codes haben sich dramatisch geändert. Nehmen wir zum Beispiel diese
       Gestalten mit den dunklen Bärten, Klamotten aus der Altkleidersammlung und
       Mützen, wie sie Südstaaten-Hillbillies trugen, während sie aus dem Fenster
       ihres verschrammelten Pick-ups auf Schwarze, Hippies und Motorradfahrer
       schossen.
       
       Früher war die Diagnose einfach: Das sind ganz schlimme Strolche,
       deretwegen man besser die Straßenseite wechselt und schon mal
       prophylaktisch den Häscher alarmiert. Heute aber kann man mit ziemlicher
       Sicherheit davon ausgehen, dass es Creative Management Directors auf dem
       Weg ins Szenerestaurant Wichtelmann & Putzig sind, wo sie ein zehngängiges
       Menü mit Variationen vom Brandenburger Rapunzelgemüse aus nitrit-, nitrat-
       und neutronenfreier Schonzüchtung genießen.
       
       Auch die deutsche Sprache, in der man sich so lang geborgen und zu Hause
       fühlte, ist ein unwirtliches Heim geworden. Das Dach ist undicht, der
       Keller voller Leichen: „Bitch“, „sichere Herkunftsländer“, der bereits
       erwähnte „Creative Management Director“, und, der letzte und irrste Schrei,
       „besorgte Bürger“. Denn noch bestens erinnerlich ist die Zeit, als
       Millionen nach heutiger Diktion „besorgte Bürger“ mit schwerem Schießgerät
       in die Nachbarländer einfielen, diese verheerten und die Bevölkerung
       ermordeten.
       
       Und das alles nur aus Angst davor, zu kurz zu kommen. Die dafür
       gebräuchlichen Bezeichnungen „Nazis“, „Wehrmacht“ und „Mörder“ waren
       zweckmäßig und gut. Die euphemisierende Sprachregelung hingegen, nach der
       man „besorgte Bürger“ (Arschlöcher) „an die Hand nehmen“ (Sigmar Gabriel,
       Pegida, Zapfsäule) und „ihre Sorgen ernst nehmen“ (verfassungswidrig die
       Grundrechte von Flüchtlingen aushebeln) müsse, verzerrt die Sachverhalte
       eher schon ins Gegenteil. Was bleibt, ist die wohl genuine Angst vor dem
       Zu-kurz-Kommen.
       
       ## Hallo, willst Du ficken?
       
       Natürlich tragen auch technische Neuerungen zum verstörten Rückzug des
       abgehängten Best Agers bei. Will man heutzutage am Leben teilnehmen,
       braucht man ein Komputergerät. Ohne Komputer gilt man nicht als
       lebensfähig, als quasi gar nicht da. Da kann man noch so freundlich gucken,
       noch so eindringliche Worte sprechen oder sogar ein Handbeil demonstrativ
       in die Tischplatte schlagen: man wird einfach nicht beachtet. Stattdessen
       gucken alle auf ihre Handkomputer, die die Unterhaltungen an ihrer Stelle
       führen.
       
       Tatsächlich unkomplizierter scheint mir jedoch das Geschlechtliche
       geworden. Wandelte man einst auf Freiersfüßen, bedeutete das ein
       jahrelanges Herantasten mit handgeschriebenen Gedichten auf Büttenpapier,
       nächtelanges Tröten auf der Schalmei, teure Tanzkurse und Seminare für
       „Essen mit Besteck“. Zeigte sich die Angebetete nunmehr gewogen, wandte man
       sich an ihren Vater. Wurde man von diesem nicht erschlagen, erkaufte man
       sich seine Gunst durch zehn Stück Kühe oder Fronarbeit. Und das alles vor
       dem ersten Kuss.
       
       Heute geben sich die Leute auf einem Empfang nur einmal kurz die Hand und
       fragen dann: „Willst du ficken?“ Und sofort geht es, heidewitzka, auf den
       Balkon oder ins Nebenzimmer. Sogar eine Antwort wie „ja“, „nein“ oder,
       „weiß nicht“ erübrigt sich laut Bundeskanzleramt, dessen Insassen
       allerdings auch niemals ohne Sicherheitsbeamte durch dunkle Parks nach
       Hause müssen.
       
       Das klingt jedenfalls alles schon wahnsinnig praktisch. In meinen sexuell
       aktiveren Zeiten hätte ich mir solch unbürokratische Abläufe durchaus
       gewünscht. Es ist auch nicht alles schlechter heute.
       
       14 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uli Hannemann
       
       ## TAGS
       
   DIR Mode
   DIR Hipster
   DIR Magazin
   DIR Deutsche Post
   DIR Jagd
   DIR Internet
   DIR Deutsche Post
   DIR Damals bei uns daheim
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR „Spiegel“-Spin-off für die Generation 50+: Fast ohne Treppenlift
       
       Das neue Magazin „Spiegel Classic“ soll Menschen im besten Alter gefallen.
       Es ist leserorientiert, gediegen und, na ja: sehr verschnarcht geworden.
       
   DIR Preisanstieg bei der Post: Macht! Endlich! Alles! Teurer!
       
       Angeblich soll das Briefporto steigen. Aber warum nur das Porto? Auch
       Mieten, Äpfeln und frischer Luft stünden Preiserhöhungen gut zu Gesicht.
       
   DIR Die Wahrheit: Waidgerechter Fangschuss
       
       Die Jagdsaison hat begonnen. Um den Bestand gesundzuhalten, steht besonders
       mutiertes Schwarzwild auf der Abschussliste.
       
   DIR Die Wahrheit: Aufrecht bis in den Tod
       
       Die Ahnenreihe der Internet-Trolle, die in Online-Foren diffamierende
       Kommentare hinterlassen, reicht weit bis ins analoge Zeitalter.
       
   DIR Die Wahrheit: Eiszapfen im Bart
       
       Um über den endlosen Poststreik hinwegzukommen, singen wir am besten ein
       altes Lied: Sag mir, wo die Paketboten sind, wo sind sie geblieben?
       
   DIR Damals bei uns daheim: Früsche Luft
       
       Geht in den Wald, das ist gesund. Dass dort alle Kette rauchten und
       Kühlschränke entsorgten? Egal. Eine Serie über die Kindheit in der BRD.