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       # taz.de -- Debatte Merkels Flüchtlingspolitik: Hier werden Sie regiert
       
       > „Merkel macht’s“ war die Devise der letzten zehn Jahre. In der
       > Flüchtlingsfrage läuft das anders. Doch Merkel richtet sich nach der
       > jeweiligen Mehrheit.
       
   IMG Bild: Selfie mit Flüchtling in Flüchtlingsunterkunft in Spandau.
       
       Dies sind die Tage der Scharfmacher. Und zwar der Scharfmacher auf beiden
       Seiten. Angela Merkel soll sich gefälligst entscheiden: Bleibt sie bei
       ihrem eingeschlagenen Kurs in der Flüchtlingsfrage? Oder knickt sie ein?
       Von links erhält sie Beifall. Von rechts hallen Warnschüsse. Für Europas
       mächtigste Politikerin muss sich das anfühlen wie verkehrte Welt. Müsste es
       nicht eigentlich andersherum sein: ihre Leute dicht bei ihr, die Anhänger
       der anderen Parteien im Kritikermodus?
       
       Aber es ist viel komplizierter. Denn es geht um nichts weniger als die
       innere Verfasstheit dieses Landes, seinen aktuellen und künftigen Umgang
       mit dem Neuen in einer global aufgeheizten Situation. Und um die
       Arbeitsfähigkeit der Regierung. Jetzt, da täglich Tausende Flüchtlinge in
       den Kommunen eintreffen, macht Angela Merkel ein Selfie mit einem
       Flüchtling. Sie spricht davon, dass Asyl keine Obergrenze kenne. Und sie
       sagt, Deutschland zeige „in Notsituationen ein freundliches Gesicht“. Wenn
       man jetzt anfange, sich dafür auch noch zu entschuldigen, „dann ist das
       nicht mein Land“.
       
       Nicht mehr mein Land? Eine fragwürdige Formulierung, und zwar nicht nur in
       Bezug auf das besitzanzeigende „mein“. Eine Regierungschefin, die eine
       Grenze der Empathie zieht zwischen Befürwortern und Kritikern ihrer
       aktuellen Flüchtlingspolitik? In der Bayerischen Staatskanzlei dürfte Horst
       Seehofer einem Herzkasper nahe gewesen sein. Und das links-grüne Bürgertum
       reagierte entzückt. Angela Merkel – jetzt also auch ihre Kanzlerin!
       
       Die Gepriesene selbst gibt sich eher keinen Illusionen hin. Angela Merkel
       weiß natürlich, dass jene, die ihr jetzt Kränze winden, ihrer Partei bei
       der Bundestagswahl 2017 trotzdem die Stimme verweigern werden. Merkel gut
       und schön, werden sie sagen – aber die CDU? Niemals!
       
       Die Kanzlerin kennt diesen Effekt von vergleichbaren politischen
       Kehrtwenden aus ihrer nun auch schon zehn Jahre währenden Regierungszeit.
       Man denke nur an die Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2010. An den
       Atomausstieg nach dem Reaktorunglück von Fukushima im Jahr darauf. Oder an
       den seit zwei Jahren geltenden gesetzlichen Anspruch auf einen Kitaplatz
       für jedes Kind ab drei Jahren. Samt und sonders linke Positionen, die sie
       als konservative Regierungschefin gekapert hatte. Stimmen von Linken-,
       Grünen- oder SPD-Wählern hat ihr das kaum gebracht. Und Stimmen sind nun
       einmal die harte Währung der Politik.
       
       ## Die Mehrheit zählt
       
       Warum also wird aus der Frau, die vor zwei Monaten ein Flüchtlingsmädchen
       in kaltem Verwaltungsdeutsch abwies, zur „Wir schaffen das“-Politikerin?
       
       Weil sie sich im Gegensatz zur Linken nicht anmaßt, Avantgarde zu sein, die
       zu wissen meint, was das Richtige ist. Sondern weil sie einfach guckt, was
       gerade richtig scheint. Und wenn sie da eine Mehrheit erkennt, setzt sie
       eben deren Meinung durch. Im Osten, wo diese Frau herkommt, nannte man
       solche Leute Wendehälse.
       
       Angela Merkel hat stets ein sicheres Gespür dafür gehabt, wie die
       Mehrheitsmeinung in diesem Lande ist. Das hat sie vor Jahren bei „Anne
       Will“ in folgenden Satz gekleidet: „Mal bin ich liberal, mal bin ich
       konservativ, mal bin ich christlich-sozial – das macht die CDU aus.“
       
       Genau dieses Hybride macht Merkel aus. In einer Situation, in der dem Krieg
       entronnene Syrer an einer europäischen Grenze zu scheitern drohten, war die
       Mehrheitsmeinung natürlich bei den Opfern von Merkels krass
       fehlgeschlagener europäischer Abschottungspolitik. Und wo die Mehrheit ist,
       da geht Merkel hin. Und da wuchtet sie dann ihre Partei hinterher. Auch
       schon mal gegen stärksten innerparteilichen Widerstand.
       
       Wann immer diese Kanzlerin bisher vom Verwaltungs- in den Gestaltungsmodus
       gewechselt hat, setzte es ungläubiges Staunen. Und rüde Ausfälle gegen sie
       von ihren eigenen Leuten. So verhält es sich auch jetzt, da sie geschickt
       die Stimmung jener auffängt, die vielleicht nicht Halleluja rufen, wenn
       eine Million Flüchtlinge bar einer bürgerlichen Existenzgrundlage ins Land
       kommen. Die aber begriffen haben, dass die Hilfe für diese Menschen
       „alternativlos“ ist. Es sind jene Bürger, die sich wünschen, dass „der
       Staat“ sich endlich kompetent der Probleme der Neuankömmlinge annimmt. Auf
       dass deren Probleme nicht ihre eigenen Probleme werden.
       
       ## Sie wollen verwaltet werden
       
       Man muss sich da ehrlich machen: Das derzeitige Lob für Merkel aus der
       Mitte der Gesellschaft ist vor allem der Wunsch nach jenem Pragmatismus,
       den diese Frau in Krisen stets bereitgehalten hat. Es ist also das Lob
       jener, die der innige Wunsch treibt, widerspruchslos verwaltet zu werden.
       So haben sie es im zurückliegenden Regierungsjahrzehnt gelernt. Bürger, die
       ein weiteres Mal hoffen, von der sachlichen Frau Merkel davor bewahrt zu
       werden, ihr Leben ändern zu müssen. Finanzkrise, Eurokrise, Krimkrise –
       immer hat sie alles hingebogen. Ein Land, das seinen Frustabbau über
       Zugausfälle und Hundeauslaufgebiete steuern darf, ist ein gesegnetes. Und
       so soll es bitte, bitte bleiben. Regression als Regierungsform.
       
       Beim Thema Flüchtlinge jedoch liegt die Sache anders. Die Herausforderung
       ist so groß, so komplex, dass Merkel möglicherweise nicht schaffen wird,
       was sie bislang doch stets hinbekommen hat: die Leute ruhig zu halten und
       ihre Union nachzuholen. Dass beides misslingen möge, dafür kommen gerade
       die antilinken Ideologen aus ihren Ecken. Sie spielen mit dem Momentum der
       Angst vor Überfremdung, mit xenophoben, antiislamischen sicherheits- und
       wirtschaftspolitischen Stanzen. Zweck der Übung ist es, Angst zu
       verbreiten. Furcht um Arbeitsplätze, Angst vor dem Islamischen Staat,
       Rangeleien um soziale Standards, Ärger in der Nachbarschaft.
       
       Der Journalist Alexander Kissler bescheinigt Angela Merkel per Blogeintrag,
       eine „Staatskrise“ ausgelöst zu haben. Spiegel-Kolumnist Jan Fleischhauer
       konstatiert die „Rückkehr des deutschen Sonderwegmarschierers“. Und der
       Historiker Jörg Baberowski mokiert sich in der FAZ über das „Gerede von der
       Willkommenskultur“.
       
       Auch aus den Reihen der Union wird auf Merkels „Wir schaffen das“ scharf
       geschossen. Carsten Linnemann, Chef der CDU-Mittelstandsvereinigung,
       mosert, der Optimismus der Regierungschefin sei ja lobenswert, aber „das
       Fachkräfteproblem lässt sich nicht über das Asylrecht lösen“.
       CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn meint, allenthalben würden die „Sorgen
       der Bürger“ kleingeredet. Und der ewige Horst Seehofer kritisiert, „die
       zuständige Bundesregierung“ (der seine CSU bekanntlich angehört) sei
       offensichtlich überfordert.
       
       ## Der Druck ist hoch
       
       Auffällig ist dabei sehr wohl die laute Kritik an Merkels Politik bei
       gleichzeitigem Fehlen von gangbaren Lösungsvorschlägen. Offenbar ist jedem,
       sowohl ihren zu kurz gekommenen politischen Weggefährten als auch ihren
       Nachfolgeaspiranten, klar: Sie wüssten es auch nicht besser.
       
       Die Frage ist, wie lange Angela Merkel diesmal dem Druck der eigenen Leute
       standhalten wird. Schon legt ihr wackeliger Innenminister einen
       Gesetzentwurf vor, der für Flüchtlinge nichts als Schmerzen bereithält.
       Residenzpflicht, Gutscheine, schnellere Abschiebungen – Waffen eines
       Sozialstaates konservativen Zuschnitts, um Ärmere fernzuhalten. Zugleich
       ein Sedativum für jene Unions-Wähler, die dieses Land über einer nicht
       näher definierten Belastungsgrenze angekommen sehen. Und dies, obwohl
       pünktlich zum Monatsersten ihr Gehalt auf dem Konto landet.
       
       Klar wird dieser Tage, dass dieses Land und seine Kanzlerin vor einer
       historischen Herausforderung stehen. Zwar geht es diesmal nicht um 16
       Millionen Menschen, deren übergroßer Teil vor 26 Jahren einfach Bürger der
       Bundesrepublik wurden (eine von ihnen war eine Physikerin aus Templin). Es
       geht nach aktuellem Stand um eine Million Menschen, die hier sind und
       möglicherweise bleiben möchten. Sie sind eine konkrete Größe. Ihre
       Schicksale, ihre Kinder, ihre Zukunft. Niemand kann ernsthaft meinen, diese
       Menschen würden sich durch neue Gesetze in Luft auflösen und eine
       störungsfreie Selbstversorger-Existenz aufbauen. Das weiß Merkel. Das
       wissen ihre Gegner. Das wissen die Flüchtlinge selbst. Und deren
       Unterstützer wissen es schon lange.
       
       Die Frage ist, was Angela Merkel daraus macht. Ebnet sie den neuen Bürgern
       einen würdevollen Weg in diese Gesellschaft? Oder soll aus ihnen das
       werden, was aus den Ostdeutschen wurde, nachdem die letzte Banane verteilt
       war: Bürger zweiter Klasse? Obwohl, dieser Platz ist bekanntlich besetzt.
       Möglich also, dass es bald auch eine dritte Klasse gibt.
       
       18 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anja Maier
       
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