URI: 
       # taz.de -- Porträt Marina Weisband: Ausatmen und Einatmen
       
       > Die frühere Piraten-Geschäftsführerin zog sich zurück, um wiederzukommen.
       > Wie sie das tun will, ist unklar. Das Ziel aber steht fest: Die Welt
       > retten.
       
   IMG Bild: Sie will Probleme „von der Seite sehen“: Marina Weisband, Ex-Piraten-Geschäftsführerin und die Frau „zwischen den Stühlen“ im Jahr 2012.
       
       Hätte ich [1][Marina Weisbands Webseite] vor dem Treffen mit ihr angeklickt
       und dort ihre Zeichnungen entdeckt, wäre mir mehr als das künstlerische
       Talent der ehemaligen Chef-Piratin aufgefallen. Die Bilder enthüllen etwas
       von ihrem Blick auf die Welt. Es sind vor allem melancholisch-träumerische
       Frauenporträts, die sich gut als Illustrationen für Fin-de-Siècle-Literatur
       eigneten. Selbstbilder? Ist sie etwa eine verkappte Romantikerin?
       
       Die junge Frau im leichten Kleid, die abgehetzt und heftig atmend das
       Münsteraner Café betritt, das sie als Ort für unser Gespräch ausgewählt
       hat, scheint freilich aus ganz anderem Holz geschnitzt. Sorry, sagt sie
       entschuldigend. Sie habe sich einen falschen Termin notiert. Normalerweise
       sei sie immer fünf Minuten früher da als abgemacht.
       
       Während sie bei einem Cappuccino ausschnauft, erzählt sie von dem Bild, an
       dem sie gerade arbeitete, als ich sie anrief, um an unser Treffen zu
       erinnern: ein „Gemälde mit 26 Personen“, eine Auftragsarbeit. Malen ist
       eine ihrer Begabungen, einige Zeit habe sie mit dem Gedanken gespielt,
       Kunst zu studieren.
       
       Der Pegelstand der Tasse ist indes noch kaum gesunken, als sie über das zu
       reden beginnt, was sie heute primär beschäftigt. Marina Weisband ist dabei,
       ihre Qualifikation als Psychologin – sie hat das Studium in Münster vor gut
       einem Jahr abgeschlossen – und die Erfahrungen in der Politik für ein
       Vorhaben ganz neuer Art zu nutzen. Die kommenden Jahre wird sie an Schulen
       in vier verschiedenen Bundesländern ein „demokratiepädagogisches Projekt“
       in „Liquid Democracy“ durchführen, finanziert von der Bundeszentrale für
       politische Bildung. Die Software ist gerade in der Entwicklung.
       
       ## Eine Künstlerin der Rede
       
       Sie ist gespannt darauf, was da möglich ist – nicht zuletzt, was sie selber
       dabei lernen kann. Im Moment sehe sie sich in einer Phase, in der es darum
       gehe, neue Erfahrungen zu sammeln. Nach der verausgabenden Zeit in der
       Piratenpartei mit einer endlosen Folge von TV-Auftritten, öffentlichen
       Stellungnahmen und Diskussionen seien jetzt Rückzug und Lernen angesagt. Es
       ist „wie Ausatmen und Einatmen“, sagt sie.
       
       Noch bei der eher unverbindlichen Anfangsplauderei wird mir Marina
       Weisbands besondere Gabe deutlich: die Kunst der Rede. Nicht die der großen
       Ansprache, der mitreißenden rhetorischen Meisterleistung, sondern der
       einprägsamen, unauffällig wirkenden Formulierung. Sie kann so klar und
       zugleich unprätentiös sprechen, dass man ihr unwillkürlich folgt.
       
       Alles, was sie sagt, scheint zweifelsfrei, zivil und unfanatisch. Marina
       Weisband hat die Fähigkeit, durch Sprechen zu überzeugen. Dies nicht
       zuletzt, weil sie die Dinge, die ihr am Herzen liegen, mit der
       erstaunlichen Mischung aus beinahe kindlichem Charme und erwachsener
       Entschlossenheit vorzutragen weiß.
       
       ## Eine Neigung zu Unsicherheit
       
       Mit einem solchen Auftritt hat auch ihre politische Karriere begonnen. Als
       es 2011 um die Wahl der politischen Geschäftsführerin der Piratenpartei
       ging, wurde sie, die damals völlig Unbekannte, von Freunden vorgeschlagen
       und auf die Bühne gehievt. Da stand sie nun mit den anderen Kandidaten –
       und redete; machte ihre Gedanken darüber öffentlich, wie sie sich den Job
       vorstellte – so einfach, klar und eindringlich, dass sie gewählt wurde.
       [2][Damals war sie 23.]
       
       Seither hat sie viele Bühnen erobert. Was immer noch und immer wieder mit
       Angst verbunden sei. „Ich neige zur Unsicherheit“, sagt sie so sicher, dass
       ich mich beinahe an meinem Milchkaffee verschlucke. Wenn sie aber einmal
       die Bühne betreten und das Lampenfieber überwunden habe, liebe sie den
       Auftritt. „Ich komme vom Theater“, fügt sie an. Theater ist, neben der
       Malerei, eine ihrer Leidenschaften. Jüngst hat sie zudem eine Frauen-Band
       gegründet, die selbst fabrizierte „zynische Lieder“ zum Besten gebe.
       
       Ob ihr heute, da sie nach ihrem Rückzug aus der großen Politik bei solchen
       Auftritten weniger gefragt sei, etwas fehle? Ihre Antwort überrascht. Genau
       das hätte sie sich gefragt, als sie 2011 den Öffentlichkeits-Tsunami auf
       sich zurollen sah: Würde ihr hinterher etwas fehlen?
       
       Antizipation von Verlusten: das klassische Mittel der Ängstlichen und
       Vorsichtigen. Sie habe immer viel, zu viel gedacht, sagt Weisband. Sie
       neigt zum Grübeln, zum Ausmalen von Worst-Case-Szenarien – eine
       lebenslange, eng mit ihrer Geschichte verbundene Verhaltensweise. Mit sechs
       Jahren kommt sie als Kontingentflüchtling aus der ehemaligen UdSSR: ein
       „Tschernobylkind“, von tödlicher Krankheit gezeichnet. In der Ukraine hätte
       sie wahrscheinlich keine Chance zum Überleben gehabt.
       
       ## Zwischen den Stühlen
       
       Aber die Landung im Westen ist hart. Sie erzählt die Geschichte ihres
       ersten Schultags: alleingelassen, ohne ein Wort Deutsch zu verstehen, ohne
       Schultüte. Ohne nichts. Schnell beginnt sie, das „Selbstbild der Fremden“
       bewusst anzunehmen. Bald trennen sich die Eltern, sie bleibt bei der
       Mutter, mit Einsamkeitsgefühlen. Als ich Zeichen von Mitgefühl absondere,
       reagiert sie cool: Man müsse kein Drama daraus machen, es gab damals
       immerhin doch bald Freunde und Unterstützung. Der wahre Horror sei die
       anschließende Adoleszenz gewesen: Gothic in Wuppertal. Sie mag darüber
       nicht reden.
       
       Ihr angestammter Platz sei wohl der zwischen den Stühlen. Immerhin, daraus
       entstünden interessante Perspektiven: die Chance, Probleme „von der Seite
       zu sehen“. Alles, was sie über ihr Leben sagt, klingt nach dieser
       „Seitenperspektive“: der Idee – oder dem Zwang? –, einen neuen, unerprobten
       Weg einzuschlagen. Als Erste ihrer Familie lebt sie ihr Jüdischsein. Nicht
       orthodox, aber gläubig. Glauben, das war für sie als Kind eine große
       Verlockung: das damit gegebene Grundvertrauen, die Sicherheit, nicht allein
       zu sein.
       
       Und dann berichtet sie von einem Erweckungserlebnis: eine Art Tagtraum vor
       einer Matheprüfung, in dem sie den Tod Andrej Bolkonskijs in Tolstois
       „Krieg und Frieden“ buchstäblich miterlebt: die Granate, sein Fallen, die
       weggerissene Hüfte, die Unmöglichkeit, auch nur noch den Arm zu heben. Was,
       wenn nichts mehr geht, nicht einmal, den Arm zu heben? Sie empfindet diese
       Todesfantasie als ein ungeheures Zugehörigkeitserlebnis zum Leben. Das, wie
       sie sagt, „sehr eng mit Glauben, mit Gott verbunden war“.
       
       Es klingt in meinen Ohren sehr russisch, nach 19. Jahrhundert, der Zeit
       ihrer Lieblingsautoren: Dostojewski, Lermontow, Heine. Und es klingt echt.
       Wie eine Liebeserklärung ans Leben, aus der Perspektive einer
       Todeskandidatin. Tatsächlich war ihr Tod eine Zeit lang wahrscheinlicher
       als das Überleben. In der Ukraine hat sie ihre Mutter gefragt, ob sie nach
       ihrem Tod zu Gott komme. Die Frage einer Vierjährigen aus einer
       atheistischen Familie in der Sowjetunion.
       
       ## Zurück in die Politik
       
       Der Tod bildet in Marina Weisbands Leben eine Art negatives Kraftfeld. Der
       Gedanke an ihn treibt sie voran, zwingt sie zu dauernder Anstrengung. „Wenn
       ich abschalte, werde ich depressiv“, sagt sie – und fühlt sich deshalb am
       wohlsten im Zustand einer ständigen leichten Überforderung. Das sei ja
       anerkanntermaßen auch das Optimum fürs Lernen.
       
       Dieser Antrieb wird ebenso wenig erlahmen wie Weisbands Wunsch, gehört zu
       werden, Einfluss zu nehmen. Auch dies ist für sie eine Angelegenheit von
       Leben und Tod. Sie wird deshalb gewiss in absehbarer Zeit wieder die
       politische Bühne betreten. Nur: wie und wo?
       
       Ganz oben auf ihrer persönlichen Agenda steht neben dem bedingungslosen
       Grundeinkommen eine Reform des Bildungswesens. Würde sie sich denn zum
       Beispiel den Zukunftsposten einer länderübergreifenden Bildungsministerin
       zutrauen? Sie zuckt mit den Achseln: Zweifel an der Fähigkeit, sich
       blitzschnell in komplexe Sachverhalte einzuarbeiten, sind ihr fremd.
       
       ## Die Welt retten
       
       Marina Weisband ist 27 Jahre jung – und schon eine Art Fossil. Sie steht
       für einen parteipolitisch auf Sicht [3][gescheiterten Versuch, Politik neu
       zu erfinden]. Und zugleich für den unbedingten Willen, ihre Vorstellungen
       in die Realität zu bringen. Wo, frage ich, wird sie mit 40 stehen? Sie
       zögert nur kurz. „Ich hab Kinder, ich tanze Tango, ich rette die Welt.“
       Kein Lächeln.
       
       „Wo genau, wie genau ich die Welt rette …“ Sie hält inne. Klar, es ist
       ironisch gemeint. Und todernst. Entweder, konkretisiert sie, sei sie in
       irgendwelchen Alternativen tätig oder „doch in der Politik am Wuseln,
       bewege diese riesigen Zahnräder – und ärgere mich“.
       
       Ich empfinde den damit angedeuteten Gegensatz von positivem Engagement und
       begleitendem negativem Gefühl nicht als Widerspruch. Er passt zu Weisband:
       dazu, wie ein Teil ihres Lebens in einer abgelegenen Zeit und Kultur, im
       19. Jahrhundert etwa, stattfindet, und der andere im Zentrum der neuesten
       Kommunikationstechnologie. Marina Weisband steht für die Integration
       solcher Widersprüche, die nicht weniger als den Wesenskern unserer
       postmodernen Welt ausmachen.
       
       Niemand erlebt sie wohl klarer als Menschen, für deren Lebensschicksal das
       Monsterwort „Migrationshintergrund“ erfunden wurde. Nichts nötigt mehr zu
       Kombinationen von Altem und Neuem, Traditionsbewusstsein und technischer
       Avantgarde, Wunsch und Realitätssinn. Marina Weisband ist mit dieser
       Konstellation groß geworden. Sie repräsentiert den Typus der
       PolitikmacherInnen von morgen. Fast möchte man sagen: ob sie es will oder
       nicht.
       
       16 Sep 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.marinaslied.de/
   DIR [2] /!5107278/
   DIR [3] /Zerfall-der-Piratenpartei/!5032648/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Schneider
       
       ## TAGS
       
   DIR Marina Weisband
   DIR Piraten
   DIR Ukraine
   DIR Tschernobyl
   DIR Bedingungsloses Grundeinkommen
   DIR Judentum
   DIR Marina Weisband
   DIR Porträt
   DIR Schwerpunkt Landtagswahlen
   DIR FDP
   DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
   DIR Verteidigung
   DIR Europawahl
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Marina Weisband über Freiheit und AfD: „Ich habe Schiss vor Chemnitz“
       
       Sie war Geschäftsführerin der Piratenpartei. Vielen galt Marina Weisband
       als großes politisches Talent. Nun ist sie bei den Grünen eingetreten.
       
   DIR Portrait der Grünen-Chefin Simone Peter: „Ich arbeite daran“
       
       Als Kind aß sie in der Parlamentskantine, denn schon Simone Peters Eltern
       machten Politik. Sie ist ein Profi – und bleibt auch im Gespräch einer.
       
   DIR Niedergang der Piratenpartei: Abschied in die Bedeutungslosigkeit
       
       Mit Marina Weisband haben die Piraten eines ihrer bekanntesten Mitglieder
       verloren. Doch zur Berlin-Wahl bekommen sie unerwartete Hilfe.
       
   DIR FDP-Politikerin Katja Suding: Ruhe macht sie rastlos
       
       Gestik, Mimik, Aufstieg in der FDP – an Katja Suding ist alles schnell. Die
       Fraktionsvorsitzende der FDP in Hamburg ist fast schon: nervös.
       
   DIR Politische Kunst: Wo kein Flieger abhebt
       
       Der Konzeptkünslter Khalil Rabah will in Hamburg Vorschläge für eine neue
       palästinensische Identität jenseits des Nahostkonflikts machen.
       
   DIR Ex-McKinsey-Beraterin im Ministerium: Von der Leyens rechte Hand
       
       Sie ist Ursula von der Leyens wichtigste Mitarbeiterin: Katrin Suder. Seit
       einem Jahr ist sie Staatssekretärin im Verteidigungsministerium.
       
   DIR Start in den Europawahlkampf: Piraten auf dem Weg nach Brüssel
       
       Mehr Inhalte, weniger meckern: Die Piraten küren ihre KandidatInnen zur
       Europawahl. Ihre Auffassung der EU leiten sie aus dem Netz ab.
       
   DIR Marina Weisband verlässt Piratenspitze: Ich bin dann mal knuddeln
       
       Marina Weisband wollte kein Profi werden. Sie tat sich schwer mit dem
       öffentlichen Rummel und will nun erstmal nicht mehr. Ist ihre Haltung okay?
       Ein Pro und Contra.
       
   DIR Geschäftsführende Piratin Marina Weisband: Eine, die alle lieben
       
       Sie sagt, sie sei ein Kind des Internets. Insofern ist sie bei den Piraten
       richtig. Aber Prinzessin Lillifee mögen? Marina Weisband rockt die
       erstarrten Politprofis.