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       # taz.de -- Ankunft der Flüchtlinge in München: „Freude schöner Götterfunken“
       
       > Auf dem Hauptbahnhof kommen Züge aus Österreich mit syrischen
       > Flüchtlingen an. Die Münchener warten schon. Mit vollen Händen.
       
   IMG Bild: Geflüchtete kommen am Münchener Hauptbahnhof an
       
       München taz | Am Hauptbahnhof in München, Gleis 26-36, wo eigentlich die
       Regionalzüge eintrudeln, warten etwa 150 Menschen hinter Absperrgittern.
       Sie stehen da wie Fans, die einen Popstar oder einen Fußballclub
       herbeisehnen. Manche sind allein, manche haben Babys in Tragetüchern vor
       dem Bauch, Kinder an der Hand, Hunde an der Leine. Viele von ihnen
       schleppen prallgefüllte Plastikbeutel mit Kleidung und Getränken, eine Frau
       hält einen Pappkarton mit Plüschtieren vor sich. „Ich sammle seit Wochen
       privat Spenden“, erzählt Dani aus München, die ihren Nachnamen lieber für
       sich behalten will. In ihrer Wohnung stapeln sich Kartons mit
       Kinderspielzeug und Klamotten, der Grund: Die Polizei in München hat vor
       ein paar Tagen verkündet, dass keine Spenden mehr gebraucht haben.
       
       Den Münchnern ist das anscheinend egal. Sie bringen weiterhin Plüschtiere,
       Kleidung, Getränke und Windeln an den Hauptbahnhof – und wollen sie den
       Flüchtlingen am liebsten direkt in die Hand drücken. Auch Dani mit Tochter
       Sarafina, drei Jahre alt, und Freundin Saskia, stehen seit zwei Stunden am
       Gleis und warten auf Menschen aus Syrien. Ihrer Tochter hat Dani erklärt,
       dass da „arme Menschen kommen, denen es schlecht geht und die zu uns
       wollen, weil sie hier zum Arzt gehen können und etwas Essen bekommen“.
       
       Auch Familie Williams aus England steht am Gitter, drei quengelnde Jungs,
       der riesige Familienhund pennt auf dem Boden. Die Familie will nach
       Südafrika auswandern, muss jetzt aber Zwischenstopp in München machen. „Wir
       wollen unseren Kindern die Realität zeigen, denn das, was sie in den
       Nachrichten gesehen haben, begreifen sie nicht“. Tim Williams sagt, dass
       viele Engländer gern Flüchtlinge in ihrem Land aufnehmen würden. Das
       Problem sei die Regierung.
       
       Michael Magerkohl, einer von 600 freiwilligen Helfern in ganz München, ist
       seit 10 Uhr morgens am Hauptbahnhof. „Wenn die Flüchtlinge ankommen, dann
       geben wir ihnen erst einmal Wasser, Obst und Müsliriegel. Wir haben auch
       Tische aufgebaut, wo wir Spielzeug und Kleidung ausgelegt haben. Die können
       sie beim Vorbeigehen mitnehmen.“ Dann sollen die Flüchtlinge schnell auf
       Busse verteilt werden. Nicht zuletzt deshalb, weil sie auf keinen Fall mit
       Nazi-Demos in Berührung kommen sollen, die vor dem Hauptbahnhof angekündigt
       wurden.
       
       ## Ein Zug kommt, die Münchener jubeln und applaudieren
       
       Es fällt schwer, Helfer und Schaulustige zu unterscheiden, die einer der
       vielen Polizisten vor Ort ironisch als „interessierte Bürger“ bezeichnet.
       Doch viele wollen die Menschen aus Syrien ernsthaft willkommen heißen. Das
       tun sie, als gegen 15 Uhr ein neuer Zug ankommt. Als die Flüchtlinge
       aussteigen, jubeln und applaudieren die Münchener, drängen sich an die
       Gitter und versuchen den Angekommenen ihre Spenden in die Hand zu drücken.
       Ein Mann stimmt „Freude schöner Götterfunken“ an.
       
       Auf der anderen Seite der Absperrungen laufen Menschen mit Säuglingen im
       Arm vorbei, einige haben Kinder an der Hand oder auf den Schultern, ein
       älteres Ehepaar ist dabei, viele Jugendliche. Auf die Rufe und das
       Klatschen reagieren die Flüchtlinge, zumeist Syrer, mit schüchternem
       Lächeln. Sie tragen Turnschuhe, Kapuzenpullover, verwaschene Jeans und
       sehen aus, wie die meisten Menschen in deutschen Großstädten auch aussehen.
       Fast wirken sie wie Touristen auf Durchreise, nur: Sie tragen kein
       Reisegepäck bei sich, sondern haben in ihren Plastiktüten und Rucksäcken
       ihren ganzen Besitz verstaut.
       
       Hinter der Bahnhofshalle gibt es einen kurzen Check, bei dem geprüft wird,
       ob jemand dringend medizinische Hilfe braucht. Dann werden die Geflüchteten
       auf Busse verteilt und zu Erstaufnahmestellen gebracht, Messe- und
       Sporthallen. In den nächsten Tagen sollen sie auf andere Bundesländer
       aufgeteilt werden.
       
       Wie viele Flüchtlinge heute noch am Hauptbahnhof ankommen werden, weiß
       niemand genau. Auch Polizeisprecher Werner Kraus will sich auf keine Zahl
       festlegen und sagt nur, man gehe von einer „große Anzahl“ aus. Auf einer
       Pressekonferenz am Nachmittag mit Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter
       und Staatsministerin Emilia Müller heißt es, dass noch bis in die späten
       Nachtstunden Züge erwartet werden.
       
       5 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jana Felgenhauer
       
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