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       # taz.de -- Kolumne Eben: Das gute deutsche Gewissen
       
       > Immer mehr Leute fuchteln mit ausgestrecktem Zeigefinger vor dem Gesicht
       > rum. Da ist etwas ganz und gar nicht in Ordnung.
       
   IMG Bild: Fuchteln gegen Nazis: Jenaer Pfarrer Lothar König im sächsischen Heidenau.
       
       Wir leben in einem freien Land, in dem man alles sagen darf. Wir leben aber
       auch in einem freien Land, in dem man sich nicht alles anhören muss. Für
       Leute, die sich etwas nicht anhören möchten, gibt es drei Alternativen. Die
       eine: zu antworten, dass man das lieber nicht hören möchte. Die andere:
       weghören. Die letzte: Ohropax ins oder die flache Hand aufs Ohr.
       
       Wenn Leute auf Dinge, die sie lieber nicht hören mögen, gereizt reagieren
       und anderen mit ausgestrecktem Zeigefinger vor dem Gesicht rumfuchteln,
       statt sich den in die Ohren zu stopfen, dann ist irgendwas sicher nicht
       ganz in Ordnung.
       
       Es gibt immer Phasen, in denen bestimmten Aussagen oder Aussagenträgern
       aufmerksamer zugehört wird als sonst, weil die nun gerade partout nicht
       hören will. Also Nichthören im Sinne von Kritisieren und nicht Nichthören
       im Sinne von Verschweigen.
       
       Zum Beispiel im Moment, wenn ein Nazi oder ein Ich-Bin-Kein-Nazi-Aber sagt,
       dass die Ausländer alle wieder verschwinden sollen. Jahrelang wurde
       weggehört, jetzt wird hingehört. Aber nicht Hingehört im Sinne von „Hört
       mal alle her, das klingt ja super interessant“, sondern Hingehört im Sinne
       von „Hört mal alle her, was die hier für einen Scheiß erzählen“.
       
       ## Zeigefinger vor Nazis ist ok
       
       Auf die Nazis mit und ohne „aber“ reagieren Leute zur Zeit auch mal gereizt
       und fuchteln mit Zeigefingern vor Gesichtern. Und das ist auch in Ordnung.
       Denn es ist überhaupt nicht in Ordnung, dass es Nazis gibt und dass, wenn
       es sie schon gibt, sie solche Sachen sagen.
       
       In der letzten Woche diskutierte die halbe Welt über das Foto des
       ertrunkenen Aylan Kurdi: Wegschauen oder hinschauen? Gefühlt wählte die
       Mehrheit Hinschauen, weil es sich bei dem toten Kind um etwas handelte, was
       man nicht sehen will. Also nicht Nichtsehen im Sinne von Wegschauen,
       sondern Nichtsehen im Sinne von Verhindern, dass solches Unglück weiter
       geschieht.
       
       Genau hingeschaut hat letzte Woche die Zeit ausgerechnet auf das, was man
       nicht mehr sagen darf und diese Einschätzung als „Gesinnungsterror“
       bezeichnet. Ausgerechnet jetzt, wo das Gewissen des protestantischen
       deutschen Bürgertums endlich auf Rosen gebettet wird, weil es sich mal
       wirklich nützlich macht: Es reicht denen die Hand, die sie gerade dringend
       brauchen.
       
       Und was macht das Leitmedium des protestantischen deutschen Bürgertums? Es
       nimmt die Heidenauer, Pegidisten und AfD-Splitter bei der Hand und erklärt,
       dass es schon ok ist, zu sagen, was man auf dem Herzen hat und musste dann
       aber feststellen, dass man selbst gar nichts mehr auf dem Herzen hat und
       deswegen auch nichts mehr zu sagen.
       
       Gar nicht hören will das gute deutsche Gewissen in dieser für es so
       erbaulichen Phase, dass es auch gern ein bisschen weniger laut sein darf
       manchmal gerade. Wenn man ihm nämlich sagt, dass es ihm nicht richtig gut
       steht, sich selbst die ganze Zeit zu feiern, anstatt einfach seinen Job zu
       machen, reagiert es mit dem Zeigefinger, fuchtelt wild und sagt, dass es
       das gerade gar nicht hören will. Also Nichthören im Sinne von „Lass uns
       später drüber reden“. Deal!
       
       8 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Doris Akrap
       
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