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       # taz.de -- Gewalt gegen weibliche Geflüchtete: Flucht im Schatten
       
       > Wenn Frauen ohne männliche Begleitung fliehen, sind sie oft Übergriffen
       > ausgesetzt – unterwegs und in den deutschen Unterkünften.
       
   IMG Bild: Manche Frauen fliehen allein, andere zusammen mit ihren Kindern oder anderen Frauen.
       
       Da ist diese Frau aus dem Iran. Mit ihren zwei Kindern ist sie vor ein paar
       Jahren vor ihrem gewalttätigen Ehemann geflohen. Der hatte sie regelmäßig
       vergewaltigt und fast jeden Tag geschlagen, mitunter im Beisein der Kinder.
       Als sie sich mit einem anderen Mann traf, sollte sie wegen Ehebruchs
       gesteinigt werden.
       
       Sie nahm ihre Kinder und machte sich über Nacht auf und davon. Sie war
       mehrere Jahre unterwegs. Über Kurdistan und die Türkei kam sie nach
       Deutschland. Hier beantragte sie Asyl und kam in Köln mit Agisra in
       Kontakt, einer Beratungsstelle für Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen in
       Köln.
       
       Die iranische Frau ist kein Einzelfall. 2013 waren nach Angaben des
       Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen UNHCR knapp die Hälfte aller
       Flüchtlinge weltweit Frauen und Mädchen. Sie verlassen ihre Heimat aus
       denselben Gründen wie Männer: zerbombte Städte und Dörfer, kein Wasser,
       kein Strom, ein zerstörtes Leben, politische Unterdrückung.
       
       Hinzu kommen sogenannte geschlechtsspezifische Gründe, wie Marei Pelzer von
       der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl sagt: häusliche Gewalt,
       Zwangsverheiratungen, Genitalbeschneidungen, Ehrenmorde.
       
       ## Die Ursache
       
       Gerade hat die Menschenrechtsorganisation Amnesty International eine
       Petition für zwei indische Schwestern aufgesetzt. Die beiden jungen Frauen,
       15 und 23 Jahre alt, sollen dafür bestraft werden, dass sich ihr Bruder in
       eine verheiratete Frau verliebt hat. Der Dorfrat hatte eine
       Massenvergewaltigung der Schwestern beschlossen. Jetzt sind die beiden
       Frauen auf der Flucht.
       
       Manche Frauen fliehen allein, andere zusammen mit ihren Kindern. Aus
       Kriegsgebieten machen sich Frauen häufig gemeinsam mit anderen Frauen auf
       den Weg: Mutter, Schwestern, Cousinen. Die Männer, Väter und Brüder sind
       meist tot, Kriegsopfer.
       
       Wie viele Flüchtlinge derzeit unterwegs sind, kann niemand genau sagen. Die
       Zahl der Menschen, die es seit Monaten aus Afrika, dem Nahen Osten und
       Südosteuropa nach Europa und nach Deutschland zieht, ändert sich täglich.
       Im August gingen die deutschen Behörden von rund 800.000 Flüchtlingen in
       Deutschland in diesem Jahr aus. Diese Annahme wurde mittlerweile auf 1
       Million korrigiert. Auch diese Zahl muss nicht stimmen.
       
       256.938 Menschen beantragten im August in Deutschland Asyl, hat das
       Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gezählt. Im vergangenen Jahr waren
       das vor allem junge Männer, 70 Prozent der AntragstellerInnen waren
       männlich und jünger als 30 Jahre alt. Sie kommen aus Syrien, Afghanistan,
       Somalia, Eritrea, Irak, dem Balkan.
       
       Für Frauen ist die Flucht – zu Fuß, auf Schlepperbooten, in Zügen – in der
       Regel noch beschwerlicher als für Männer. „Viele haben Angst vor sexuellen
       Übergriffen“, sagt Behshid Najafi von der Beratungsstelle Agisra in Köln.
       Für ihre Flucht brauchen die Frauen Geld, was viele nicht haben. In der
       Regel kommen sie aus patriarchalischen Gesellschaften und haben weder einen
       Beruf noch ein eigenes Einkommen. An die Schlepper müssen sie mehrere
       tausend Euro zahlen. Deshalb „verkaufen einige ihren Körper an die
       Schlepper“, sagt Najafi.
       
       ## Die Hoffnung
       
       Vor allem in den muslimischen Herkunftsländern ist Sex gegen Geld ein
       großes Tabu. „Manche Frauen machen das aber, um sich und das Leben ihrer
       Kinder zu retten“, sagt Najafi.
       
       Frauen, die wie die Iranerin ohne Ehemann oder andere männliche
       Bezugspersonen unterwegs sind, sind noch stärker körperlicher, sexueller
       und psychischer Gewalt ausgesetzt als reisende Frauen im Familienverbund
       oder mit Ehemann. „Manche müssen ohne Bezahlung arbeiten oder werden als
       Haushaltshilfen ausgebeutet. Einige werden zur Prostitution gezwungen“,
       sagt Najafi. Kürzlich sei eine Frau aus Somalia in die Beratungsstelle
       gekommen. Sie war sieben Jahre lang auf der Flucht. „Sie ist schwer
       traumatisiert“, sagt Najafi.
       
       Für nicht wenige Frauen enden die Bedrohungen nicht, sobald sie in Europa
       oder in Deutschland ankommen. „In Flüchtlingsunterkünften laufen viele
       Menschen Gefahr, sexualisierte und häusliche Gewalt durch Partner, Bewohner
       oder Personal zu erleben“, sagt Heike Rabe, Expertin für
       geschlechtsspezifische Gewalt beim Deutschen Institut für Menschenrechte in
       Berlin. Zimmer und Waschräume könnten nicht abgeschlossen werden, Frauen
       würden bis in die Duschen hinein verfolgt. Die Männer sind in der Mehrheit
       und dominierten allein dadurch in den Heimen. Laut dem Bundesamt für
       Migration und Flüchtlinge lebten die Flüchtlinge 2014 durchschnittlich
       sieben Monate zusammen auf engstem Raum.
       
       Während die Männer versuchen, mobil zu sein, verlassen die Frauen die
       Unterkunft fast nie – aus Angst vor Übergriffen. Und weil es in ihren
       Herkunftsländern oft nicht üblich ist, sich frei auf der Straße zu bewegen.
       Das macht es schwer, ihnen praktisch zu helfen, hat Ulrike Helwerth
       erfahren. Die Journalistin setzt sich privat für Flüchtlingsfrauen ein. Sie
       sagt: „Hilfe wie zum Beispiel Sprachkurse müssen zu den Frauen kommen.“
       
       Die Gewalt gegen Flüchtlingsfrauen und Kinder ist kaum erforscht.
       Statistisch ist nicht erfasst, wie viele flüchtende Frauen von Übergriffen
       betroffen sind. Mitunter dringen heftige Vorfälle sexualisierter Gewalt an
       die Öffentlichkeit. So wie im Frühjahr in München, wo es zu massiven
       Übergriffen auf Frauen und zu Zwangsprostitution gekommen war.
       
       Beraterinnen wie die bei Agisra in Köln hören indes jeden Tag dramatische
       Geschichten – und können oft nicht helfen. Frauen mit einem ungeklärten
       Aufenthaltsstatus beispielsweise werden in Frauenhäusern nicht aufgenommen.
       Weil nicht klar ist, wer den Aufenthalt der Frauen dort bezahlt.
       
       „Es muss getrennten Wohnraum für Männer und Frauen geben“, fordert Harald
       Löhlein, Migrationsexperte beim Paritätischen Wohlfahrtsverband. Doch wie
       soll das angesichts der zahlreichen Zelt- und Containerdörfer gehen?
       Momentan gibt es nicht genügend Wohnraum für Flüchtlinge. Trotzdem
       entstehen mancherorts Heime speziell für weibliche Geflüchtete. In
       Darmstadt beispielsweise wurde gerade eine Frauenunterkunft eröffnet, im
       Herbst soll es in Gießen eine weitere geben.
       
       ## Die Realität
       
       Geschlechtsspezifische Verfolgung gilt seit der Genfer
       Flüchtlingskonvention 1951 als Asylgrund. Deutschland hat sich lange
       dagegen gesperrt, sogenannte nichtstaatliche Verfolgung wie Vergewaltigung
       und häusliche Gewalt als Fluchtursache anzuerkennen. Mit dem
       Zuwanderungsgesetz 2005 hat sich das geändert, die Betroffenen haben
       rechtlich mehr Aussicht auf Asyl.
       
       In der Realität sieht das allerdings oft anders aus. Unter den über 33.000
       AsylbewerberInnen, die im vergangenen in Deutschland als Flüchtlinge
       anerkannt wurden, waren 624, die wegen „geschlechtsspezifischer Verfolgung“
       nicht mehr abgeschoben werden dürfen. „Das sind überwiegend Frauen, aber
       auch homosexuelle Männer“, sagt Löhlein.
       
       Viele Frauen haben keine Chance auf Asyl. „Ihnen wird vielfach unterstellt,
       sie hätten sich die Erlebnisse nur ausgedacht“, sagt Juristin Pelzer von
       Pro Asyl. Mitunter sind die Asylverfahren formell und unsensibel. „Es
       werden Beweise verlangt, die die Frauen nicht bringen können“, weiß
       Agisra-Beraterin Najafi. Die Iranerin, die mit ihren beiden Kindern vor der
       Steinigung floh, sollte ein Papier vorlegen, das die geplante Folter
       beweist.
       
       19 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schmollack
       
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