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       # taz.de -- Buch „Der totale Rausch“: Ein Volk, ein Reich, viele Drogen
       
       > Junkie Hitler: Der Autor Norman Ohler erzählt von der Sucht des Führers
       > und der deutschen Wehrmacht auf Speed.
       
   IMG Bild: Bad Münstereifel, um 1940. Adolf Hitler und andere Nazis. Ganz hinten, mit Brille, sein Leibarzt Theodor Morell.
       
       Der Führer, vollgepumpt mit Amphetaminen, Opioiden, Sexualhormonen und
       Kokain. Ein Süchtiger, dieser „Patient A.“, der sich vor Treffen mit den
       Militärs oder mit Mussolini, vor Radioansprachen oder zur Steigerung der
       Libido regelmäßig dopen lässt. Der später als „gebeugte, hinkende Gestalt“
       durch den Führerbunker schlurfen soll, „das einzige Staatsoberhaupt der
       Welt, das wöchentlich zwischen 120 und 150 Tabletten einnehme und etwa acht
       bis zehn medikamentöse Injektionen bekomme“, wie Erwin Giesing, HNO-Arzt
       von Patient A., bei einer Kontroverse mit anderen Ärzten bemerkt haben
       soll.
       
       Sicher, die Geschichte eines mit Medikamenten zugedröhnten Adolf Hitler
       alias Patient A., der vor allem von seinem Leibarzt Theo Morell stetig mit
       Rauschmitteln aller Art versorgt wird, ist spektakulär; allein weil sie den
       kaum verblassten Mythos des asketischen Vegetariers Hitler konterkariert.
       Mit dieser asketischen Vorstellung wird in dem nun erscheinenden Buch „Der
       totale Rausch. Drogen im Dritten Reich“ von Norman Ohler gründlich
       aufgeräumt.
       
       Norman Ohler ist eigentlich Romanschriftsteller, Drehbuchautor und
       Regisseur. Zu seinem Thema gekommen ist er, als er mit einem Freund über
       Aufputschmittel sprach. Der Freund sagte, die hätten die Nazis doch auch
       schon genommen. Aus der Idee, einen Roman darüber zu schreiben, wurde nach
       Gesprächen mit seinem Lektor am Ende ein literarisch aufgehübschtes
       Sachbuch. Ohler forschte dazu etwa im Freiburger Militärarchiv,
       durchforstete das Koblenzer Bundesarchiv.
       
       Vor allem Hitlers von Morell geführte Krankenakte hat er in aller
       Ausführlichkeit analysiert. Dabei konzentriert er sich auf die Jahre ab
       1940, insbesondere auf die Spätphase des Krieges, in der Hitler die
       absehbare Niederlage verleugnet und auch sonst den Bezug zur Realität
       verliert. Er zeichnet das Bild einer fast symbiotischen Beziehung des
       Junkies Hitler zu seinem Dealer Morell, der ihm immer härtere Stoffe
       besorgen muss.
       
       ## Pat. A und das Pervitin
       
       Zunächst bekommt „Pat. A“ Vitaminpräparate, später Pervitin, ein dem
       heutigen Crystal Meth ähnliches Amphetamin und zugleich die begehrteste
       Droge des „Dritten Reichs“. Als Hitler in der Nacht vor einer Unterredung
       mit Mussolini im Juli 1943 Magen- und Darmkrämpfe plagen, spritzt Morell
       dann erstmals Eukodal, ein extrem starkes Betäubungsmittel. „Leib
       brettartig hart gespannt, voller Gase. Sehr blasses Aussehen, hochgradig
       nervös. Morgen sehr wichtige Besprechung mit Duce“, vermerkt Morell.
       
       In welchem Maße Eukodal von da an zu Hitlers bevorzugtem Stoff wird, ist
       eines der Dinge, die Ohler nicht klären kann – über die er aber mutmaßt.
       Zwischen 1943 und 1944 seien 24 Injektionen in Morells Patientenakte
       notiert – er aber geht davon aus, dass die Anzahl weit höher sei: Auffällig
       oft finde sich ein „X“ in der Akte unter den Verabreichungen. Zuvor hatte
       „X“ zwar für Traubenzucker gestanden, Ohler aber behauptet, es müsse fortan
       Eukodal bedeutet haben.
       
       Gesichert hingegen ist die Erkenntnis, dass Hitler nach dem
       Stauffenberg-Attentat im Juli 1944 hoch dosierte Medikamente verabreicht
       wurden. Belegt ist, dass der schon erwähnte HNO-Arzt Giesing ihm Nasen- und
       Rachenpinselungen mit Kokain verordnete, da Hitlers Trommelfelle geplatzt
       waren.
       
       Ohler erzählt aber nicht nur von den Süchten des Führers. Er schildert den
       Aufstieg des Aufputschmittels Pervitin und dessen Verbreitung im deutschen
       Volk. 1937 wurde es entwickelt und bereits ab 1938 bei den Temmler-Werken
       in Berlin massenproduziert. Spätestens ab 1940 wurde das Mittel auch von
       Wehrmachtssoldaten übermäßig eingenommen. „Flieger-Salz“,
       „Panzerschokolade“ oder „Göring-Pillen“ nannte man es dort. Der
       Schriftsteller Heinrich Böll etwa schrieb aus dem Krieg immer wieder Briefe
       nach Hause mit der Bitte, Pervitin zu schicken. Allein vor dem Westfeldzug
       in Frankreich, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden, dem „Blitzkrieg“
       des Jahres 1940, soll die Militärführung 35 Millionen Pillen bei Temmler
       geordert haben.
       
       ## Kokain-Kaugummis
       
       Gegen Ende des Buches kommt Ohler zu den Kriegsjahren 1944 und 1945, in
       denen die NS-Militärs im Angesicht der drohenden Niederlage
       Kokain-Kaugummis oder die Superdroge „D IX“ – eine Kombination aus Kokain,
       Pervitin und Eukodal – für die Soldaten entwickeln wollten. Derlei Mittel
       erprobte man im KZ Sachsenhausen an Häftlingen.
       
       Vieles, was Ohler hier anführt, ist grundsätzlich nichts Neues. Es gab
       bereits (wissenschaftliche) Artikel zum Thema, 2002 erschien ein Buch mit
       dem Titel „Nazis on Speed – Drogen im 3. Reich“, das sich dem
       allumfassenden Doping im „Dritten Reich“ widmete. Und die US-amerikanischen
       Psychiater Leonard und Renate Heston veröffentlichten schon 1980 ein
       „Medical Casebook of Adolf Hitler“, in dem bereits von den Präparaten die
       Rede ist, die Ohler hier Hitler zuschreibt.
       
       Somit hat Ohler eher viele Aspekte des NS-Drogenrausches zusammengetragen;
       eine „Gesamtschau“, wie im Vorwort angekündigt, ist es nicht wirklich
       geworden. Dann hätten die Medikamentenversuche in den KZs genauer
       beleuchtet werden müssen, dann hätte man auch gern zur Einordnung gewusst,
       welche Mittel denn in den Armeen der Alliierten genommen wurden (einmal
       wird erwähnt, dass die Engländer Benzedrin nutzten). Was den Drogenkonsum
       unter den Wehrmachtssoldaten, auch bei der SS betrifft, so bleibt die
       Betrachtung ausschnitthaft.
       
       ## Systematisches Doping
       
       Sehr detailliert beschreibt der Autor dagegen den Medikamentenkonsum im
       Führerbunker und die Versuche von Otto Friedrich Ranke, Leiter des
       Wehrphysiologischen Instituts, den Drogenkonsum in der Wehrmacht
       voranzubringen, zum Teil gegen den Willen des Reichsgesundheitsamts.
       
       Man gerate in Versuchung, dem Thema „zu große Bedeutung zuzumessen“,
       schreibt der Autor einleitend, um dieser Versuchung dann doch einige Male
       zu erliegen. Historiker Hans Mommsen spricht im Nachwort davon, dass dieses
       Buch „das Gesamtbild“ ändere – vielleicht kann man dies im Hinblick auf die
       Systematik und das Ausmaß des „Dopings“ sagen. Die Frage, ob man den
       gesamten Nationalsozialismus nun anders bewerten müsste, lässt sich
       hingegen gleich mehrfach verneinen.
       
       Am Ende stellt schließlich auch der Autor fest, man müsse betonen, „dass
       das dunkelste Kapitel unserer Geschichte nicht etwa deshalb derart
       entgleiste, weil zu viele Suchtmittel eingenommen wurden. Diese verstärkten
       nur, was ohnehin angelegt war.“
       
       16 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
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