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       # taz.de -- Grünen-Chef über Flucht und Integration: „Überfällige Bekenntnisse umsetzen“
       
       > Cem Özdemir will ein Ministerium, das Fragen der Integration koordiniert.
       > Es soll sich um die Entwicklung eines „neuen Wir“ kümmern.
       
   IMG Bild: Sprachkenntnisse sind enorm wichtig. Deutschunterricht in einer Willkommensklasse in Berlin
       
       taz: Herr Özdemir, die grüne Gretchenfrage ist: Noch mehr sichere
       Herkunftsländer, ja oder nein? Wie stehen Sie dazu? 
       
       Cem Özdemir: Wenn ich mir die Situation der Roma anschaue oder die
       Tatsache, dass die Bundeswehr im Kosovo an der Friedenssicherung beteiligt
       ist, kann man schwer davon sprechen, dass diese Länder [1][für alle
       Menschen sicher sind]. Außerdem ist uns die Bundesregierung den Beweis
       schuldig, dass dieses Instrument überhaupt zu einer Entlastung führt.
       
       Allerdings sehen wir natürlich auch, dass nur wenige Asylsuchende aus dem
       Kosovo oder aus Albanien tatsächlich in Deutschland anerkannt werden.
       Deshalb brauchen wir mehr Aufklärung vor Ort, alternative Zugangswege auf
       den deutschen Arbeitsmarkt über ein noch zu schaffendes Einwanderungsgesetz
       und eine glaubwürdige EU-Beitritts-Perspektive, die mit Reformen und
       wirksamer Korruptionsbekämpfung flankiert werden muss. Wichtig ist, dass
       beim Bund-Länder-Gipfel eine Lösung gefunden wird, die die ganze
       Gesellschaft im Blick hat.
       
       Was heißt das? 
       
       Es geht im Moment vor allem darum, den Bürgermeistern in den Kommunen, den
       Helfern vom DRK, THW oder von der freiwilligen Feuerwehr und den Bürgern,
       die ehrenamtlich in Flüchtlingsunterkünften arbeiten, zu helfen – egal ob
       sie CDU, SPD oder Grüne wählen. Die erwarten von uns, dass wir die Probleme
       lösen. Dazu gehört übrigens auch, die Integration anzugehen und nicht die
       Probleme der Gastarbeiterzeit zu wiederholen.
       
       Was lief damals falsch? 
       
       Nehmen Sie die Generation meiner Eltern: Die Bundesrepublik wollte sich
       nicht eingestehen, dass viele dieser Menschen dauerhaft in Deutschland
       bleiben würden. Sie hat sich viel zu lange dieser Realität verweigert. Das
       Staatsangehörigkeitsrecht hat Rot-Grün damals gegen die Union durchgesetzt.
       Deutschland ist ein Einwanderungsland, der Islam gehört zu Deutschland,
       solche Sätze gehen Merkel heute geschmeidig über die Lippen. Das waren vor
       nicht allzu langer Zeit Sätze, die wie Wasserscheiden zwischen der rechten
       und linken Mitte waren. Nun müssen diese überfälligen Bekenntnisse auch in
       Politik umgesetzt werden.
       
       Was muss Deutschland dieses Mal besser machen? 
       
       Aus meiner Sicht müssen wir in Zukunft einen Dreiklang organisieren:
       Flüchtlinge und Einwanderer müssen über die Sprache integriert werden. Sie
       brauchen Jobs. Und wir dürfen uns um Fragen der kulturellen Integration
       nicht herumdrücken.
       
       Gehen wir die Forderungen einmal Schritt für Schritt durch: Dieses Jahr
       kommen wahrscheinlich 800.000 Flüchtlinge, viele davon werden langfristig
       bleiben. Wie wollen Sie ihnen allen Deutsch beibringen? 
       
       Das ist ein ambitioniertes Vorhaben, keine Frage. Wir müssen Kurse massiv
       ausdehnen, auf alle, die kommen. Denn wenn jemand kein Deutsch spricht,
       entgehen uns seine fachlichen Qualifikationen. Nach fünf oder zehn Jahren
       ohne Deutschkenntnisse kann man niemanden mehr vernünftig in den
       Arbeitsmarkt integrieren. Diese Kurse werden Geld kosten, aber es ist gut
       angelegt.
       
       Die Länder suchen schon jetzt händeringend nach Deutschlehrern. Mit
       pensionierten Studienräten werden sie den Personalbedarf kaum decken
       können. 
       
       Deutschland wird improvisieren müssen. Da ist die gesamte Gesellschaft
       gefragt, ehrenamtliche und hauptamtliche Helfer wachsen ja jetzt schon über
       sich hinaus. Aber sicher ist: Wenn die Leute hier dauerhaft eine Chance
       haben sollen, brauchen sie professionelle Sprachkurse.
       
       Außerdem müssen wir Kenntnisse über Deutschland vermitteln: Wie
       funktioniert unser Schulsystem? Wie wichtig ist Altersvorsorge? Wir
       brauchen einen Fahrplan zur Integration, damit sich die Menschen in unserer
       Gesellschaft zurechtfinden. Dazu gehört, dass jeder Neueinwanderer eine Art
       Fibel bekommt, in der all diese Fragen beantwortet werden.
       
       Neben Qualifizierten, die damit etwas anfangen können, kommen auch
       ungebildete Flüchtlinge. Die ins deutsche Sozialsystem zu integrieren wird
       teuer. 
       
       Aus der Portokasse wird sich das nicht finanzieren lassen. Es geht ja auch
       um Kinderbetreuung, Wohnungsbau und Gesundheitsversorgung. Die Integration
       ist ein Mammutprojekt. Ich prophezeie Ihnen: Dieses Thema an eine
       Beauftragte der Bundesregierung zu delegieren reicht bald nicht mehr aus.
       Das könnte in Zukunft das zentrale Ressort im Kabinett werden.
       
       Bisher ist der Posten der Integrationsbeauftragten im Kanzleramt
       angesiedelt. Sie wollen stattdessen ein Integrationsministerium aufbauen? 
       
       Ein eigenständiges Integrations- und Einwanderungsministerium könnte sich
       um die notwendige Entwicklung eines „neuen Wir“ in Deutschland kümmern.
       Dafür muss es in diesem Bereich den Hut aufhaben und alle Aufgaben
       koordinieren.
       
       Ob mit eigenem Ministerium oder nicht: Integration kostet Geld. Wie wollen
       Sie die Zuwanderung finanzieren? Durch neue Schulden, höhere Steuern oder
       Kürzungen in anderen Bereichen, wie es Finanzminister Schäuble
       vorgeschlagen hat? 
       
       Ich rate nicht dazu, jetzt eine Debatte über die Schuldenbremse oder höhere
       Steuern zu führen. Erst mal muss eine realistische Kostenschätzung auf den
       Tisch, und dann können wir die Finanzierung besprechen. Klar ist: Kommunen
       und Länder werden die Unterstützung des Bundes brauchen. Da muss der Bund
       in die Verantwortung und muss alle Hebel in Bewegung setzen.
       
       24 Sep 2015
       
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